In post­exotischen Zeiten gehört man nicht nur einer Tradition an

Der deutsch-indische Komponist Sandeep Bhagwati ist in der abendländischen und in aussereuropäischer Musik zu Hause. Ein Gespräch über die Sehnsucht nach Exotik in der Oper, kulturelle Aneignung und die Frage, ob Puccinis Opern ein Fall von Raubkunst sind.

Herr Bhagwati, Sie sind Komponist, Kurator, Professor für interkulturelle Kunstpraxis und – verkürzt gesagt – ein Künstler, der die Musik und ihre Erscheinungsformen nicht nur aus dem Blickwinkel der abendländischen Kultur betrachtet.
Ich bin bi-kulturell mit mehreren Sprachen und Musiktraditionen aufgewachsen. Meine Mutter ist Deutsche, mein Vater Inder. Wir haben bis zu meinem fünften Lebensjahr in Indien gelebt. Dann sind wir nach Europa gezogen. In Deutschland bin ich zur Schule gegangen und habe Komposition und Dirigieren studiert.

Wir wollen über das Thema der sogenannten kulturellen Aneignung sprechen, über das im Moment vielerorts hitzig diskutiert wird. Es geht darum, ob und wie wir fremde Kulturen in unseren westlichen Kunstformen noch darstellen können, ohne sie herabzusetzen. Die Oper ist voll von Stoffen, die sich in exotische Welten träumen. Sie spielen in China wie Puccinis Turandot, in Japan, im Orient oder in Afrika wie Verdis Aida. Ist dieser westliche Blick auf fremde Kulturen heute grundsätzlich zum Problem geworden?
Man muss immer genau hinschauen, bevor man pauschal wertet, und sich etwa vor Augen führen, wie die Opernstoffe entstanden sind. Viele haben relevante Themen ihrer Zeit aufgegriffen wie etwa Die Entführung aus dem Serail von Mozart. Die Bedrohung durch das Osmanische Reich, aber auch die systematischen Entführungen von Europäern durch die von diesem Reich unterstützten Korsaren waren im 18. Jahrhundert ein grosses Thema. Deshalb war der Blick auf die orientalische Kultur zu gleichen Teilen geprägt von Furcht und Anziehung. Im 19. Jahrhundert haben die Menschen gespürt, dass im fernen Osten mit China ein faszinierendes, aber nur wenigen Europäern bekanntes Reich von weltpolitischer Bedeutung existiert, also wurde es in der Kunst thematisiert. Die Motivation, sich fremden Kulturen in Opern zuzuwenden, war also nicht arrogantes Vertrauen in die eigene Überlegenheit, sondern eher so etwas wie bange Neugier.

Die Kritiker kultureller Aneignung würden hier einwenden, dass die Darstellung fremder Kulturen immer aus der Haltung kolonialer, westlich arroganter Überlegenheit erfolgt ist, weil das Verhältnis zwischen den verschiedenen Teilen der Welt eben von dieser Haltung geprägt war.
Ich glaube, das greift zu kurz. Es gibt interessanterweise gar nicht so viele Opern, die in den Kerngebieten kolonialistischer Eroberungen spielen, also in Südasien, in Afrika oder in den frühkolonialen Eroberungsgebieten von Süd- und Mittelamerika. Die tauchen vermehrt erst später in der postkolonialen Zeit des 20. Jahrhunderts auf. In England etwa sind im 19. Jahrhundert kaum Opern entstanden, die fremde Kulturen thematisieren. Das ist ja auch klar: Wenn man als Kolonialmacht ein unterjochtes Land entwürdigend als niedere Kultur etablieren will, schreibt man nicht gerade eine Oper darüber. Das macht man auf anderen Wegen. In Opern wird ja eher die starke Lebenskraft der fremden Kulturen gefeiert, die Begeisterung für das Exotische ist Ausdruck eines Überdrusses an der eigenen Kultur. Das Bürgertum des 19. Jahrhunderts projizierte Fantasien von Despotie, erotischer Libertinage und Farbigkeit des Lebens auf nichteuropäische Kulturen. In Bezug auf Musik liegen die negativen Folgen des Kolonialismus für mich eher darin, mit welcher Dominanz die westliche Musik in die meisten Regionen der Welt Einzug gehalten hat. Hätten nicht Kanonenboote mit Gewalt die technische Überlegenheit westlicher Zivilisation demonstriert und damit suggeriert, dass diese auch im Kulturellen «besser» aufgestellt sei, hätten sich manche kolonialisierten Länder vielleicht auch ein stärkeres Selbstbewusstsein für die eigenen, reichen Traditionen bewahrt.

«Wenn man sich nicht in andere hineinversetzen darf, braucht man gar nicht erst auf die Bühne zu gehen»

Trotzdem stellt sich die Frage, wie man heute ein Opern-China oder einen Opern-Orient auf die Bühne bringen kann, ohne sogenanntes «Othering» zu betreiben, also die fremde Kultur von der eigenen abzugrenzen?
Ich glaube, ohne «Othering» gäbe es gar kein Theater. Wenn man sich nicht in andere hineinversetzen darf, braucht man gar nicht erst auf die Bühne gehen. Im Theater will man nicht nur sich selber sehen – und wenn, dann in Formen, die einem tiefere Schichten seines Selbst zeigen. Das kann man nur, indem man sich im Anderen veräussert. Auch in der griechischen Tragödie legte man Masken an, um ein Anderer zu sein. Wenn Kinder Theater spielen, wollen sie sich verkleiden, und der Antrieb ist dabei meist nicht, sich über die Verkleidung lustig zu machen. Natürlich gibt es auf der Bühne Darstellungen anderer Kulturen, die diskriminierend, verkürzend, beleidigend sind. Der Protest dagegen ist berechtigt. Aber jeder Darstellung einer anderen Lebensform durch jemanden, der sie selbst nicht lebt, von vornherein negative Intentionen zu unterstellen, ist mir zu undifferenziert. Ich stehe der Debatte um kulturelle Aneignung auch deshalb skeptisch gegenüber, weil in ihr mit dem Begriff der Identität operiert wird. Als ob klar wäre, was die Identität des Menschen ist. Was bin ich? Inder? Deutscher? Kanadier? Künstler? Mann? Vater? Die Frage nach meiner «Positionalität», wie es jetzt ja heisst, könnte ich mir jeden Tag neu stellen – und immer eine andere Antwort bekommen. Identität ist eine komplexe Mischung verschiedenster Zuordnungen und Selbstzuordnungen. Jeder Mensch steht in der Schnittmenge unterschiedlicher Kreise von Gemeinschaft, Herkunft und Gesellschaft. Ich mache Dinge, die mich interessieren, und diese Interessen bestimmen, wer ich bin. Das Argument, dass irgendjemand irgendetwas im Blut habe, hat noch nie gegriffen. Eine der weltweit besten Schulen für indische Musik gibt es beispielsweise in Basel.

Können Sie die Skepsis gegenüber dem Begriff der Identität an Ihrem eigenen Beispiel veranschaulichen?
Irgendwann ist mir als in Europa lebender Komponist klar geworden, dass mich mein Name nie loslassen wird. Immer wurde ich mit der Frage konfrontiert: Wo ist denn das Indische in Ihrer Musik, Herr Bhagwati? Ich stand zwar schon immer etwas schräg zu den gängigen Praktiken der mitteleuropäischen zeitgenössischen Musik, habe am Anfang aber gar nicht recht verstanden, warum. Erst durch intensive Beschäftigung mit indischer Musik wurde mir klar, dass vieles von dem, was ich komponiert habe, tatsächlich seine Wurzeln in indischen Klangverfahren, indischer Rhythmik und indischem Zeitverständnis hat. Von dem Zeitpunkt an hat es mich interessiert, wie Mischungen verschiedener Kulturen entstehen – und zwar nicht aus dem Wunsch heraus, etwas anderes machen zu wollen, also nicht aus der Sehnsucht nach Aneignung von Exotischem, sondern aus der Lebensrealität, in der sich Menschen befinden. Ich nenne das Postexotismus. Im 19. Jahrhundert konnte man vielleicht noch davon ausgehen, dass alle an ihrem Lebensort durch die selbe Art von Kultur sozialisiert waren. Das hat sich aber heute völlig verändert. Ich klingele in der Stadt bei meinem Nachbarn und stelle fest, dass er sich nicht für westliche klassische Musik interessiert, aber Reisen nach Asien unternommen hat und nun balinesische Gamelanmusik macht. Wir können uns Musiktraditionen zugehörig fühlen, die nicht die «ethnisch» eigenen sind. Und mehr noch: Auch unsere vermeintlich «eigene» Kultur beruht auf bewussten Entscheidungen. Nicht jeder Bayer pflegt bekanntlich die Tradition des Schuhplattelns, sondern nur einige. Man muss sich für eine Tradition immer bewusst entscheiden – und es gibt heute an jedem Ort viele Traditionen, die man annehmen kann. Auch wer sich als Mitteleuropäer mit der abendländischen zeitgenössischen Musik beschäftigt, betritt ein fremdes, exotisches Terrain, denn fast niemand ist mit Boulez, Stockhausen oder Ligeti von Kinderzeiten an aufgewachsen. Unsere Musik der Vergangenheit ist ebenfalls ein fernes, exotisches Land. Wer vermag schon wirklich zu fühlen, was Monteverdis oder Mozarts Musik zu ihrer Zeit «authentisch» bedeutete? Man projiziert immer das Eigene ins Andere.

Auch Aufführungen von Monteverdi oder Mozart müssten wir also kritisch auf unreflektierte kulturelle Aneignung untersuchen?
Die Erwartungshaltungen, die gerne an Operninszenierungen gerichtet und für «richtig» gehalten werden, sind oft nichts anderes. Wer allen Figuren in einer Mozartoper eine Puderperücke aufsetzt und meint, das reiche aus, um der Entstehungszeit des Werks gerecht zu werden, läuft Gefahr, Mozart zu simplifizieren und zu diskreditieren. Man muss das ganz klar so sehen: Wir exotisieren nicht nur fremde Kulturen, sondern auch unsere eigene Vergangenheit – manchmal sogar brutaler.

Wie denken Sie über kulturelle Aneignung auf der Ebene des musikalischen Materials? Was ist mit Komponistinnen und Komponisten, die in ihre Opern Chinesisches oder Arabisches integrieren?
Auch da muss man genau hinschauen. Es gab und gibt jene, die von einer bestimmten musikalischen Ästhetik beeindruckt sind, sich mit ihr auseinandersetzen und sie dann in reflektierter Form übernehmen. Es gibt aber leider auch andere, die einfach nur sagen: Das klingt toll, das mache ich jetzt auch. Diese oberflächliche Variante ist natürlich problematischer, weil überhaupt nicht ergründet wird, was das Übernommene bedeutet. Das ist wie bei den Leuten, die sich chinesische Schriftzeichen auf ihren Körper tätowieren lassen, ohne zu wissen, was sie bedeuten, und deshalb mit absurden Statements auf ihrem Körper herumlaufen. Derlei Ignoranz ist nie gut im Austausch zwischen Kulturen. Man sollte schon in eine ernsthafte Auseinandersetzung einsteigen. Es gibt da ja interessante frühe Beispiele in der westlichen klassischen Musik wie etwa Claude Debussy, bei dem überhaupt nicht klar ist, ob er die balinesische Gamelanmusik, die ihm begegnet war, zu imitieren versucht hat, ob sich sein kompositorisches Denken durch diese neue Erfahrung verändert hat, oder ob sich sein Komponieren schon vor dieser Erfahrung in eine Richtung entwickelt hat, die er durch die Gamelanmusik nur bestätigt fand. Olivier Messiaen untersuchte Ende der 1940er bestimmte rhythmisch-mathematische Verfahren – und entdeckte genau diese in der indischen Musik. Das bestärkte ihn darin, dass sie auch musikalisch nutzbar waren. Er schrieb damit Musik, die ohne diese indischen Modelle nicht entstanden wäre, die dennoch keine naive Aneignung bedeutet.

In der bildenden Kunst gibt es den Tatbestand der Raubkunst. Kann es das auch in der Musik geben - geraubte Musik?
Ja, es gibt eine Debatte darum, und ich selbst spreche in Vorträgen auch von Raubmusik, aber ich meine damit die aufgezeichnete Musik, die die Ethnologen von ihren Expeditionen mitgebracht haben und die jetzt in Form Mitschnitten in westlichen Archiven liegt und nicht zurückgegeben wird.

«Die Empörung ist berechtigt. Es gab hierzulande keine Sensibilität für die Ausbeutung anderer Völker»

Worin besteht der Raub? Darin, dass diese Musik ihres ursprünglichen Kontextes beraubt wurde und von den Riten abgekoppelt ist, in die sie eingebunden war?
Ja. Man hat diese Musiken oft in dem guten Willen aufgenommen, sie vor ihrem Untergang zu retten. Man ahnte, dass sie nicht mehr lange lebendig sein würden, weil der koloniale Zugriff die fragilen, meist nur oral überlieferten Traditionen plattmachte. Die Haltung der Ethonologen war: Lasst uns noch schnell die Gesänge der Einheimischen aufnehmen, bevor sie endgültig verschwunden sind. Das war zwar irgendwie ehrenwert, aber trotzdem ein Raub. Man wollte sich sozusagen noch schnell die Juwelen sichern, bevor der Tempel einstürzt. Die Musik, die jetzt in den westlichen Archiven lagert, müsste eigentlich wiederbelebt zurückgegeben werden, indem man sie mit Vertretern oder Nachfolgern der Traditionen aufarbeitet und wieder zu einer aktiven Praxis werden lässt. Das passiert zum Glück auch ab und zu, aber nicht oft genug.

Könnte man auch bei einem Komponisten wie Giacomo Puccini von Raubmusik sprechen? Er hat ja gerne mit exotischem Kolorit in seinen Opern gespielt.
Weil er Pentatonik in Turandot verwendet hat und Gregorianik in seiner Tosca? Ich weiss nicht. Da sind wir wieder beim Theater: Auch die Musik zieht Gewänder an, um Theatralität zu erzeugen. Hans Pfitzner adaptiert Palestrinas Musik in seiner Oper. Gustav Mahler verwendet böhmische Volksmusik, die in der Sinfonik des späten 19. Jahrhunderts auch ein exotischer Fremdkörper war. Solche Formen der kulturellen Aneignung waren gängig – und schon zu ihrer Entstehungszeit tobte ein Machtkampf um absolute oder theatralisierte Musik. Darf Musik etwas anderes sein als sie selbst? Manche sagen «nein», andere «na klar, ist sie sowieso immer». Dieser Streit ist älter als die ihm stark ähnelnde Debatte um kulturelle Aneignung.

Welcher Art ist Ihr eigener Umgang mit Musiktraditionen?
Ich habe beispielsweise vor zehn Jahren begonnen, postexotistische Ensembles zu gründen, in denen Musikerinnen und Musiker zusammenkommen, die alle in einer Stadt leben, aber in völlig verschiedenen Traditionen zu Hause sind. Wir machen zusammen nicht das, was man «Weltmusik» nennt, wir jammen nicht fröhlich vor uns hin. Wir versuchen in die Tiefen der jeweiligen Traditionen vorzudringen und die gemeinsame Musik als eine Erscheinungsform sehr unterschiedlicher Faktoren zu verstehen. In dieser transkulturellen Praxis wird Musik durchsichtig für andere Prozesse, die hinter der Musik ablaufen. Sie eröffnet Möglichkeiten, ganz neue Verbindungen einzugehen und den selben Klang etwa in fünf oder zehn verschiedenen Varianten auszulegen, je nachdem von welcher Seite man kommt und aus welcher Perspektive man ihn betrachtet.

Steht die Debatte um kulturelle Aneignung, in der es ja immer auch darum geht, was man nicht mehr dürfen darf, Ihrer Vision von einer transkulturellen Musik im Weg?
Ich glaube, dass die Rigorosität, mit der die Debatte an manchen Stellen geführt wird, nicht von Dauer ist. Ich sehe in ihr ein Moment erster emotionaler Annäherung, in der die Initiativen schon mal über das Ziel hinausschiessen. Wir sind sozusagen noch in der ideologischen Phase. Gerade in den sozialen Medien funktioniert ja Emotionsaufwallung nur in der Überzeichnung. Mir kommt das vor wie jemand, der einen anschreit, obwohl er im Recht ist – eben weil er sehr aufgewühlt ist. Im Moment kommt man da nicht weiter. Am besten wartet man, bis die Aufwallung vorbei ist – und kann dann die Sache wirklich verhandeln. Die Empörung ist ja vollkommen verständlich: Es gab hierzulande halt sehr lange keine Sensibilität für Rassismus, die Ausbeutung anderer Völker oder für die soziale Herabwürdigung von Frauen. Es gab kaum ein kritisches Bewusstsein für die Wurzeln des eigenen Reichtums, der eben nicht nur darauf basiert, dass man selbst hart gearbeitet hat. Die Engländer spüren gerade schmerzhaft beim Brexit, wie sehr ihr Wohlstand davon abhängt, dass andere hart für sie arbeiten. Die Aufmerksamkeitsdichte, die vor allem die sozialen Medien für wenige Tage erzeugen, mag Schaden anrichten, aber nicht permanent. Ich finde es erstmal gut, dass eine Sensibilität auf beiden Seiten erwacht ist. Die Gefühle sind echt und roh, die Wunden noch offen. Aber beide Seiten – die über das Unrecht Empörten und die über den Verlust ihrer Macht Empörten – können einander auf lange Sicht finden, da bin ich optimistisch. Man kann die Realität ja nicht einfach abschaffen. Und diese lautet nun mal, dass es verschiedene Kulturen gibt, dass Menschen verschiedenster Kulturen miteinander leben – und voneinander lernen.

Was zählt mehr: Die Freiheit der Kunst oder die Freiheit derer, die sich durch stereotype Darstellungen in Kunstwerken diskriminiert fühlen?
Natürlich weder ausschliesslich das eine noch das andere. Am lautesten nach «Freiheit» rufen ja immer die politisch Rechten. Sie setzen die Freiheit absolut und beziehen sie auf sich selbst. Es geht um «meine» Freiheiten. Ich will so schnell auf der Autobahn fahren wie ich will. Ich will keine Maske aufsetzen. Ich will mir den Waffenbesitz nicht verbieten lassen usw. Freiheiten sind im Kontext einer komplexen Gesellschaft aber immer durch andere bedingt. Sie bauen darauf auf, dass die Rechte anderer nicht beeinträchtig werden. Dies bedeutet eben auch, Rücksicht auf Gefühle von Diskriminierung zu nehmen. Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass es gerade in kulturellen Konflikten oft schon ausreicht, die sich verletzt Fühlenden anzusprechen und dadurch ein Verständnis für beide Seiten anzubahnen. Auf der anderen Seite erwarte ich aber auch, dass die herabwürdigende Typisierung Anderer, die zu Recht von diskriminierten Menschen beklagt wird, auch bei ihnen keinen Nährboden findet, denn nicht jeder «weisse alte Mann» hält Frauen für mindere Wesen und denkt wie ein kolonialer Herrenmensch – auch wenn dies noch immer auf erstaunlich viele in der Kulturszene zutrifft! Freiheit ist eben nicht «meine» oder «deine» Freiheit, sondern ein gemeinsames, fast künstlerisch-visionäres Projekt.

«Auch die Musik zieht Gewänder an, um Theatralität zu erzeugen»

Die Kunstform Oper ist in ihren Grundfesten tief in der abendländischen Hochkultur verankert. Sollte man sie aus Ihrer Sicht daraus lösen und mehr für andere Musiktraditionen öffnen?
Nicht unbedingt, nicht reflexhaft. Sie steht nun mal für ein in Europa gewachsenes Kulturverständnis und hat darin auch ihre Existenzberechtigung. Es hat ja auch wenig Sinn, Institutionen des japanischen Nō-Theaters mit der Forderung nach kultureller Öffnung zu konfrontieren. Aber wenn die Kunstform heute als zu unbeweglich wahrgenommen wird, müssen sich diejenigen, die diese Institutionen prägen und tragen, schon mal fragen, warum eine der bedeutendsten Kunstformen ihrer Kultur eine vor allem bewahrende Rolle spielt und sich nur wenig weiterentwickelt. Das Zukunftszugewandte und Schöpferische gerade im Zusammenbringen verschiedener Künste und menschlicher Perspektiven war in ihrer Geschichte immer eine Stärke der Oper – und das erfordert Mut zu den vielstimmigen, vielfarbigen Realitäten unserer Gesellschaften. Nicht nur auf der Bühne und im Orchestergraben, sondern in ihrem gesamten Organismus.


Das Gespräch führte Claus Spahn.

Sandeep Bhagwati ist ein weltweit aktiver Komponist, Musikforscher, Publizist, Dichter und Theatermacher. Er hat in Salzburg, München und Paris Dirigieren, Komposition und Computermusik studiert. Ab 2000 war er Professor für Komposition und Multimedia an der Musikhochschule Karlsruhe, bevor er 2006 als Canada Research Chair an die Concordia University Montréal wechselte. Dort gründete er das matralab, ein Labor für künstlerische Forschung in den Live-Künsten. Er hat wesentliche theoretische und praktische Ansätze zur Dekolonisation Neuer Musik und zur künstlerischen Forschung entwickelt. Sandeep Bhagwati lebt in Montreal und Zürich.

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 99, März 2023.
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