Kunst zeigt nicht, wie jemand ein glückliches Leben führt

Die deutsche Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken hat sich intensiv mit der Kunstform Oper befasst und plädiert aus feministischer Sicht für einen differenzierten Blick auf die ewige Opferrolle der Frau auf der Opernbühne

Frau Vinken, das Thema unseres Gesprächs sind die Frauenbilder, die das traditionelle Opernrepertoire vermittelt. Haben Sie als reflektierte, feministische Frau ein Problem mit der Art, wie weibliche Figuren auf der Opernbühne erscheinen?
Ehrlich gesagt: Nein. Es kommt natür­lich darauf an, welche Oper ich an­schaue. Wenn beispielsweise in der Zauberflöte die Chöre der Priester kommen, ginge ich am liebsten raus. So viel selbstgerechter Quatsch im dröhnenden Bass geht mir auf die Nerven. Das will ich nicht hören.

Sie meinen Sarastros männerbündi­sche Priestergemeinschaft, die frauen­feindliche Sätze sagt wie «Hütet euch vor Weibertücken» oder «Ein Weib tut wenig, plaudert viel.»
Ja. Wobei diese Art von Frauenfeind­lichkeit sich ja selbst entlarvt. Die Priester sind überzeugt davon, den richtigen Weg zu kennen, und wissen alles besser. Sie sind machtgeil, verteufeln die König in der Nacht und putschen gegen sie. Im Interesse ihrer illegitimen Machtergreifung kon­struieren sie sich ein völlig zwangs­neurotisches Ordnungssystem. Da denkt man doch: Okay, sonst noch was? Frauenfeindlichkeit, die so ausgestellt ist, desavouiert sich selbst.

«Die Grösse von Opern liegt darin, die Perspektive der Unterlegenen einzunehmen»

Aber Mozarts Zauberflöte ist die meistgespielte Oper.
Und sie hat wahnsinnig ironische und lustige Momente. Sie ist buntscheckig, es gibt diese faszinierende Figur der Königin der Nacht als Antimutter. Klischees werden ironisch verkehrt oder durch Übererfüllung entlarvt, Genderklischees auf den Kopf gestellt. Das ist grossartig.

Sie sagen, Sie haben kein Problem mit dem Frauenbild, das die Oper propagiert, obwohl die weiblichen Opernfiguren immerzu betrogen, verschachert, besiegt, getötet und als Scheiternde vorgeführt werden. Wie passt das zusammen?
Wir leben in einer Kultur, in der in der Tragödie die Heldin oder der Held am Ende stirbt. In der Kunst geht es nicht darum, zu zeigen, wie jemand ein besonders erfolgreiches, glückliches Leben führt. Figuren werden auf dem Theater zu Helden, indem sie ihr Leben lassen. Es gibt wenige, die alt und glücklich werden – ausser vielleicht in Märchen, und von diesen Helden, die zufrieden leben bis ans Ende ihrer Tage, erfährt man ja nichts mehr. Nein, Literatur, Theater und Oper erzählen von den Verlierern, während Ge­schichtsschreibung von den Gewinnern erzählt. Denken wir an die Aeneis von Vergil: Das ist eine Geschichte der Ge­winner – das Römische Reich wird ge­gründet. Aber die Grösse der Aeneis liegt nicht im kommenden Triumph des römischen Reiches. Sie liegt in der Tragödie des Untergangs von Troja, in der Schilderung des Untergangs der Dido, der die Tränen der Leserinnen und Leser seit über zweitausend Jahre fliessen lässt. Wir freuen uns nicht mit den Gewinnern. Wir leiden mit der verlassenen, tragischen, Selbstmord be­gehenden Dido. Die Grösse von Opern liegt darin, die Perspektive der Unterlegenen einzunehmen. Aber ich verstehe natürlich, worauf Ihre Frage abzielt. Das ist ja der klassische Vorwurf, dass die Oper einen Kult des Frauenopfers zelebriert. Nicht schon wieder eine tote Frau auf der Bühne, lautet der Ein­spruch vor allem gegen die Werke des 19. Jahrhunderts. Aber man muss schon genau hinhören. Das 19. Jahr­hundert war vielleicht, was die Gleich­heit der Geschlechter angeht, das schlimmste aller Jahrhunderte. Aber gerade die Oper erzählt doch von der Unerträglichkeit der bürgerlichen Ehevorstellungen und der patriarchalen Kleinfamilie; sie propagiert nicht die Werte des Patriarchats, sondern sie prangert sie an. Patriarchalische Männ­lichkeit erleidet doch einen katastro­phalen Schiffbruch auf der Opernbühne.

Das ausgestellte weibliche Opfer bestätigt also nicht die männliche Überlegenheit?
Die Frage nach der Funktion des Op­fers ist eine zentrale für fast alles in der Kunst. Was ist ein Opfer? Wir leben in einer christlich geprägten Tradition, die auf einem Opferkult gründet: Ein junger Mann von 33 Jahren wird durch das Kreuz hingerichtet und vollendet durch dieses Liebesopfer die Erlösung der Menschheit. Vor diesem Hinter­grund ist das Opfer – auch – ein Privi­leg. Spätestens im 19. Jahrhundert sind wir in einer Opferkrise: Man hat den Eindruck, dass wir nicht erlöst sind, dass die Erlösung neu passieren muss. In der Oper wird das Liebesopfer Christi neu interpretiert und umbesetzt. Das Privileg des Opfers wird dabei, typisch Romantik, fast nur noch Frauen eingeräumt. Ausnahmen bestätigen die Regel. Man kann also sagen: Die Opernhäuser sind Kathedralen der Moderne, aber ihr Erlöser ist weiblich.

«Die patriarchale Männlichkeit erleidet doch einen katastrophalen Schiffbruch auf der Opernbühne»

Und was bedeutet das für die männ­lichen Figuren in der Oper?
Wie gesagt: Die patriarchalische Gesell­schaft wird blossgestellt. Nehmen wir Verdis La traviata: Der Repräsen­tant des Patriarchats, Giorgio Germont, der Vater von Violettas Geliebtem Alfredo, sieht am Ende, dass er sich im Geiste des Patriarchats an der Liebe vergangen hat. Er erkennt seine Schuld, er erkennt die Grösse des sublimen Lie­besverzichts der Violetta. An ihrem Sterbebett weist der Sohn dem Vater die Leidende: Schau, was du getan hast. Ecce homo. Das ist doch eine Bank­rotterklärung des Patriarchats, das unfä­hig ist, zu erkennen, was Liebe ist. Ge­rettet wird Germont allein durch seine Bekehrung: Er erkennt, dass die Liebe der Violetta haushoch über der Ehre der Familie steht. Das lässt Verdi uns hören. Gerade bei ihm erwächst aus der Liebesfähigkeit der Frauen im Moment ihres Todes eine unglaubliche Verände­rungskraft, die viel stärker ist als die ver­meintliche Macht der Männer. Das spüren wir auch bei Gilda in Rigoletto. Von ihr könnte man bei oberflächlicher Betrachtung denken: Das ist halt ein dummes Ding, das an den Falschen ge­raten ist. Aber sie hat die Kraft, für den Herzog von Mantua in den Tod zu gehen, obwohl sie ihn als nichtswür­dig erkannt hat. Das ist eine unglaub­liche Liebeskraft. Und was für eine erbärmliche Figur gibt demgegenüber der Herzog ab? Die Grösse von Gildas Lie­besopfer macht ihn nicht nur lächerlich, sondern infam. Nichts hat er verstanden. Er verlässt die Bühne, indem er «La donna è mobile» trällert, eine der be­rühmtesten Tenorarien der Opernge­schichte. Er diffamiert darin die Frauen, ohne einen Schimmer davon zu haben, was für Verheerungen er angerichtet hat. Ich finde, die Figur des Herzogs zeigt auch, welche subtile Form von Verach­tung viele Opernkomponisten der Stimmlage des Tenors entgegenbringen. Ich habe ein bisschen gebraucht, bis ich das verstanden habe. Natürlich fallen wir alle auf die Schönheit der Tenor­stimme herein. Aber eigentlich sollten wir lieber dreimal hinhören, bevor wir der Verführungskraft erliegen, denn das Versprechen der Stimme wird oft durch die Figur entzaubert wie beim Herzog oder bei Pinkerton, dem Tenor in Puccinis Madama Butterfly: Der gibt sich vom ersten Ton an als aufge­blasener Typ und imperialistischer Sexprofiteur zu erkennen.

Nicht immer werden die Frauen zu heroisch überhöhten Opferfiguren. Eine Stereotypie des Weiblichen in Opern ist beispielsweise, dass die Frau kapriziös und «flatterhaft» ist, wie das so schön in den italienischen Libretti heisst. Sie kann nicht treu sein, ist leicht verführbar, wird von ihren Emotionen immerzu hin und her gerissen. Letztlich wird ihr die Fähigkeit abgesprochen, ernsthaft zu lieben. Was ist dazu aus feministischer Sicht zu sagen?
Das ist ja genau das, was der Herzog im Rigoletto singt: «La donna è mobile», die Frau ist launenhaft und wie eine Feder im Wind, mal liebt sie den und bald einen anderen. Das ist männliche Selbstlegitimation im Sinne von: Hänge dein Herz nicht an eine; tue einfach, was dir gefällt. Dieses Motiv stammt aus Vergils Aeneis. Merkur steigt vom Him­mel herab und sagt: Aeneas, du Idiot, wie kannst du dein Reich einer Frau opfern. Auf das Herz einer Frau kann man niemals bauen. In diesem Fall ist das allerübelste Nachrede, weil die Frau – Dido nämlich – treu bis in den Tod ist. Und genau so ist es ja auch im Rigoletto: Was der Herzog singt, ist übelste Verleumdung, die dem Publikum als ebensolche vor Ohren steht: Die angeb­lich flatterhafte Frau ist gerade ohne mit der Wimper zu zucken für den Her­zog, der selbst der Inbegriff der Flatter­haftigkeit ist, in den Tod gegangen. Die mit Abstand interessanteste Oper in diesem Zusammenhang ist für mich Così fan tutte von Mozart, denn darin wird das Thema der weiblichen Flatter­haftigkeit in aller Konsequenz durch­geführt und auf den Punkt gebracht. Klar ist von vornherein, dass Männer so­wieso zu ernsthafter Liebe unfähig, also flatterhaft, sind – così fan tutti. Kein Mensch nimmt je etwas anderes an. Die Männer wetten auf die Treue ihrer Bräute und beweisen sich gegenseitig, verkleidet in gekreuzten Paarkonstella­tionen, dass sie irren. Die Männer setzen auf ihre Einmaligkeit und Unersetzlichkeit. Indem sie triumphierend behaup­ten: Meine Braut betrügt mich niemals, wird klar, dass für die Männer die Liebe nichts anderes ist als eine narzisstische Spiegelung. Ist meine Braut mir treu, bin ich der Grösste. Das ist doch brül­lend komisch. Mozart entlarvt gnaden­los den männlichen Narzissmus und fährt den idealistischen Glauben an die Einzigartigkeit von Individuum und Liebe gegen die Wand. Klar ist das auch erschütternd.

Fiordiligi immerhin, die Standhafte, liebt den «falschen« Mann wirklich, wenn sie ihre Gefühle im zweiten Akt zulässt.
Genau. Sie erliegt der Illusion der au­thentischen Liebe in ihrer ganzen Schönheit, das macht die Grösse der Figur aus. Das ist ja das Raffinierte an dieser Oper, dass sie total desillusio­nierend ist, die Illusion aber nochmal in ihrer vollen Pracht aufblühen lässt. Am Ende aber steht die Erkenntnis: Die menschlichen Leidenschaften sind nicht einzigartig und unteilbar, das Individuum ist austauschbar. Und das ist bitte mit Heiterkeit und ohne Bitterkeit zu ertragen.

«Die Leute fragen kritisch: Ist die Oper noch zeitgemäss? Ich muss sagen, ich finde sie wahnsinnig zeitgemäss»

Ich stelle nochmal eine andere Rolle zur Diskussion, die den Frauen in Opern gerne zugewiesen wird. Sie sind die Trophäe, die die Männer sich durch Prüfungen erringen müs­sen wie Max im Freischütz, oder sie werden als Siegerpokal bei Wett­bewerben ausgelobt wie in Wagners Meistersingern. In der polemischen Draufsicht ist das ein Frauenverständ­nis, das im 21. Jahrhundert natürlich keinen Platz mehr haben dürfte.
Ich muss da nochmal grundsätzlich werden: Kunst hat doch nicht die Aufgabe, Rollenmodelle für fairen Umgang und ein gelungenes Leben zu liefern. Opern funktionieren doch nicht nach dem Prinzip: «How to marry the right guy», «how to be successful» etc. Ästhetische Gegenstände bewegen sich jenseits von Exempla und unmittel­barer Anwendbarkeit auf das wirkliche Leben. Sie eröffnen uns Möglichkeiten von Erkenntnis, und diese Erkenntnisse zeigen uns die Wirklichkeit in einem neuen Licht. Selbsterkenntnis, Wirklich­keitserkenntnis, auch wenn das weh tut: Darin liegt die Funktion von Kunst.

Der aktivistische Ansatz in den ak­tuellen Cancel-­Culture­-Debatten funktioniert aber nach der Devise: Die überständige Kunst wiederholt Stereotypen, bestätigt sie dadurch und muss deshalb weg.
Und ich finde: Die Stereotypien werden gezeigt – das heisst wir können sie überhaupt als Stereotype erkennen – und entlarvt. Affirmiert, sagen wir, Gustave Flauberts Roman Madame Bovary die patriarchale Ehe, von der er handelt? Bricht er den Stab über die Ehebrecherin, die sich am Ende vergif­tet? Wer den Roman so liest, hat nichts verstanden. Anstatt Opern oder Texte zu canceln, sollten wir den Mut haben, uns ihren gefährlichen Kräften aus­zusetzen, ihren Kränkungen, ihren Zersetzungsenergien, dem Unzeit gemässen, das ihnen innewohnt, aber natürlich auch ihrer Schönheit – und dann wahr­nehmen, was sie uns zu sagen haben. So lange wir durch die Lektüre oder einen Opernbesuch eine Erfahrung ma­chen, die wir ohne das Kunstwerk nicht machen würden, sind die Werke lebendig. Wenn das nicht mehr passiert, sind sie tot. Das kommt natürlich auch vor. Der Kanon relevanter Werke muss sich immer wieder neu bilden. Die Menschen jeder Gesellschaft müssen ihn für sich und ihre Zeit neu inter­pretieren. Der Kanon ist das, was wir hier und jetzt aus ihm machen.

Unser Gespräch hat eine überraschende Entwicklung genommen. Sie als kritisch feministische Beobachterin der Oper halten flammende Ver­teidigungsreden auf die Kunstform, während ich als Vertreter aus dem Betrieb mich herausgefordert fühle, die problematischen Aspekte ins Feld zu führen.
Es ist ja klar, warum Sie so fragen. Die Oper steht unter Legitimationsdruck. Sie pflegt ein tradiertes Repertoire, dem vorgeworfen wird, frauenfeindlich, rassistisch, imperialistisch­kolonial und elitär zu sein. Ich teile dieses Urteil nicht. Die Opern propagieren dieses Verhalten nicht; sie halten uns den Spiegel vor. Die Leute fragen kritisch: Ist die Oper noch zeitgemäss? Und ich muss sagen, ich finde sie wahnsinnig zeitgemäss. Wie kein anderes Genre sprengt sie Genderkorsetts. Wie in keiner anderen Kunstgattung – ausser der Mode – zeigt sie Geschlechterrollen nicht als Ausdruck von Natur, sondern spielt mit ihnen und behandelt sie ironisch. Das ist doch fantastisch. Man muss nur Mozarts Le nozze di Figaro und den Crossdresser Cherubino hören und sehen, um zu verstehen, was ich meine. Auch was die Stimmen angeht, verunmöglicht sie die Naturalisierung der Geschlechter: Männer singen in der Barockoper in Sopran­ und Altlage. Insofern – und das ist nur ein Beispiel – ist die Oper für mich eine sehr aktuelle Kunstform. Man muss auch mal über­legen: Was wäre denn die «zeitgemässe» Alternative für die Oper? Sie ist als Kunstform von einer Komplexität und einem Reichtum, der schwer zu über­treffen ist. Fantastische Stimmen, Diven, Orchester, Chöre, packende Stoffe, alles gegen den Strich gebürstet – wer kann schon mit solchen Pfunden wu­chern? Das sollte man bei den aktuellen Debatten auch sehen oder besser gesagt hören. Solche Kunstkraft findet man nicht einfach auf der Strasse.


Das Gespräch führte Claus Spahn.

Barbara Vinken ist Professorin Barbara Vinken ist Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Romanische Philologie an der Ludwig- Maximilians-Universität in München. Im März erscheint ihr Buch «Diva: Eine etwas andere Opernverführerin» im Klett-Cotta-Verlag.

Dieser Artikel ist erschienen in MAG 97, November 2022.
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