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Anna Karenina

Ballett von Christian Spuck
Nach dem gleichnamigen Roman von Lew Tolstoi (1828-1910)
Musik von Sergei Rachmaninow, Witold Lutosławski, Sulkhan Tsintsadze und Josef Bardanashvili

Dauer 2 Std. 10 Min. inkl. Pause nach dem 1. Teil nach ca. 1 Std. Werkeinführung jeweils 45 Min. vor Vorstellungsbeginn.
Eine Koproduktion mit Den Norske Opera & Ballett / Nasjonalballetten, Oslo.

Gut zu wissen

Trailer «Anna Karenina»

Pressestimmen

«Mit Anna Karenina, seiner neusten Produktion im Opernhaus Zürich, bringt der Zürcher Ballettdirektor Christian Spuck grosse Gefühle auf die Bühne»
Neue Zürcher Zeitung vom 13. Oktober 2014


Gespräch


Pure Schönheit ist langweilig

Ein Gespräch mit Christian Spuck über die Suche nach «Anna Karenina» vor der Uraufführung im Oktober 2014.

Christian Spuck, Sie bringen den 1000-Seiten-Roman «Anna Karenina» von Lew Tolstoi als Ballett auf die Bühne. Was hat Sie an dem Stoff fasziniert?
Wie sich da eine Frau in Leidenschaft und Emotionen verliert. Anna Karenina entscheidet sich gegen das gesicherte Leben an der Seite ihres Ehemanns und stürzt sich rückhaltlos in eine verbotene Liebe. Sie opfert alles für diese Liebe, ihr gesellschaftliches Ansehen, ihre Familie, sogar ihren über alles geliebten Sohn. Rationale Entscheidungen sind ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr möglich, sie folgt einzig dem Hochgefühl von Liebe und Leidenschaft, und dieser Weg führt in den Abgrund. Man empfindet mit ihr, weil sie ihre Liebe in der russischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts nicht leben kann.

Wann und wo ist Ihnen Tolstois Roman zum ersten Mal begegnet?
Ende der 90-er Jahre habe ich die Verfilmung mit Sophie Marceau als Anna gesehen. Es gibt darin Szenen, die ich nicht mehr vergessen habe, etwa wie diese Anna, von der Gesellschaft geschnitten, einsam in ihrem luxuriösen Zuhause sitzt und sich in Eifersuchtsanfälle steigert. Mich hat beeindruckt, wie eine Frau mit ihrer Liebe nicht nur an der Gesellschaft scheitert, sondern auch an sich selbst verloren geht. Die Ballettadaptionen des Stoffes, die ich dann danach gesehen habe, erschöpften sich meist in der Darstellung eines Eifersuchtsdramas zwischen einer Frau und zwei Männern. Aber in dem Stoff steckt sicher viel mehr.

Ist es nicht ein aussichtsloses Unterfangen, einen so umfassenden Roman in einem hundertminütigen Ballettabend erzählen zu wollen?
Der Versuch einer buchstabengetreuen Nacherzählung des Buches wäre natürlich zum Scheitern verurteilt, man kann dem riesigen Kosmos der Romanvorlage niemals gerecht werden. Das ist aber auch nicht unser Anliegen. Wir zeigen ein Ballett nach Tolstois Buch. Der Roman fungiert als Vorlage, von der man sich irgendwann auch lösen muss, um nicht im Nachbuchstabieren stecken zu bleiben. Die Kunstform des Balletts bietet die Chance, eine solche Geschichte in grosser Direktheit der Gefühle zu erzählen. Mich interessiert vor allem, die Protagonisten in ihrer Vieldeutigkeit zu zeigen. Gerade bei Anna gibt es viele Verhaltensweisen, die man nicht nachvollziehen kann. Man fragt sich: Warum macht sie das? Wie kann sie so weit gehen? Mitunter erscheint sie sogar unsympathisch, und trotzdem empfindet man immer eine grosse Empathie für sie. Natürlich ist es schwierig, das Gesellschaftspanorama des zaristischen Russlands, das Tolstoi in aller Breite ausmalt, auf die Bühne zu bringen. Das kann das Hollywood-Kino besser. Die Stärke unserer Erzählform liegt im konzentrierten Blick auf Figuren und Situationen. Tanz eröffnet die Möglichkeit, die einzelnen Figuren in ihrer ganzen emotionalen Vielfalt und Widersprüchlichkeit plastisch hervortreten zu lassen.

In der Vergangenheit haben Sie immer wieder grosse literarische Vorlagen zu Handlungsballetten verarbeitet. Mit wie viel Respekt begegnen Sie den Stoffen?
Respekt heisst für mich vor allem, ehrlich mit einem Kunstwerk umzugehen. Und das bedeutet, sich intensiv mit dem Buch auseinanderzusetzen und dann eigene künstlerische Entscheidungen zu treffen. Spannend wird es doch erst, wenn man einem solchen Stoff eine eigenständige ästhetische Dimension abringen kann. Respektlos gegenüber einem so grossartigen Roman wie Anna Karenina fände ich es, sich nur kleinmütig am Strang der Geschichte entlang zu hangeln.

Welche Konsequenzen hat es, einen so sprachmächtigen literarischen Stoff ohne Worte erzählen zu müssen?
Darin liegt ja die grosse Stärke des Balletts. Ganz wichtig ist, dass man dieser «Sprachlosigkeit» mit einer wohlüberlegten Musikauswahl begegnet. Bei jedem neuen Stück ist das für mich immer die langwierigste und komplizierteste Arbeit. Mit der passenden Musik kann man die Figuren wie unter einem Mikroskop betrachten. Für Anna Karenina habe ich nach russischer Musik gesucht und mich durch das Gesamtwerk von Sergej Rachmaninow gehört. Die Verbindung von Süsse und eigentümlicher Schwere in seiner Musik hat mich fasziniert. Man spürt darin das, was so gerne als «russische Seele» beschworen wird. Allerdings habe ich schnell gemerkt, dass Rachmaninows Musik eines starken Kontrastes bedarf. Den habe ich bei Witold Lutosławski gefunden, einem der wichtigsten und spannendsten polnischen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Seine Musik wirkt im Gegenschnitt fast wie eine Dekonstruktion von Rachmaninow und vermittelt mit ihrer verstörenden Tiefe das Gefühl, den Figuren ganz nahe zu kommen.

Was ist noch zu bedenken bei der Musikauswahl für ein Handlungsballett?
Es sollte Musik sein, die noch nicht vertanzt wurde und als Folie für den Stoff funktioniert. Sie muss Unsichtbares sichtbar machen und Emotionen wortlos unterstreichen. Wenn ich die Musik höre, muss ich sofort verstehen, was auf der Bühne passiert. Musik ist für mich immer der Schlüssel zum Inhaltlichen, man kann ihr gar nicht genug vertrauen. Ich lasse Bilder manchmal einfach stehen, weil alleine die Musik sehr genau sagt, worum es gerade geht. Oft kann Musik viel mehr erzählen als irgendwelche Schritte. Habe ich Musik gefunden, die sowohl zum Thema als auch zu den Figuren passt, ist es entscheidend, eine dramaturgisch stringente Reihenfolge zu finden, was ein ständiges Durch- und Nachhören bedeutet. Die Knackpunkte sind die Übergänge. Das ist wie ein Puzzlespiel, bei dem jedes Teil an seinen richtigen Platz gebracht werden muss. Wenn ich schon beim Hören merke: Hier geschieht nicht viel, verwende ich diese Musik auch nicht. Es muss etwas passieren! Theater hat für mich immer mit Fallhöhe und überraschenden Wendungen zu tun. Daran arbeite ich mit den Tänzern intensiv. Wir müssen die Konflikte und Widersprüche stark machen. Harmonie und Ornamentik, die pure Schönheit, wird nach zehn Minuten langweilig.

Wie wichtig ist die Besetzung der Titelrolle bei Anna Karenina?
Anna Karenina kreiere ich für Viktorina Kapitonova. Im Entstehungsprozess ist sie meine wichtigste Inspirationsquelle. Sie ist nicht nur eine fantastische Tänzerin, sie verfügt auch über ein enormes schauspielerisches Potential. Es ist bewundernswert, wie sie nicht in Schritten, sondern immer im Charakter der Figur denkt. Wenn ich ihr Schrittmaterial gebe, ist schon bei der zweiten Wiederholung der schauspielerische Gestus da. Viktorina geht es nicht darum zu demonstrieren, was für eine tolle Tänzerin sie ist. Sie möchte Anna Karenina darstellen, und ich merke, wie sie dafür brennt. Das inspiriert auch mich.

Mit «Anna Karenina» kommt ein russischer Roman mit russischer Musik und einer russischen Hauptdarstellerin auf die Bühne. Das klingt nach grosser Emotion und grossem klassischem Ballett. Birgt die Kombination auch eine gewisse Kitschgefahr?
Das kommt darauf an, was man unter Kitsch versteht. Kitsch im Ballett bedeutet für mich, aufgesetzte Emotionen und das Behaupten einer Ästhetik, die inhaltlich nicht begründet ist. Ich hoffe, dass wir in diesem Sinne keinen Kitsch auf die Bühne bringen. Unsere Anna Karenina Interpretation lebt von extremer szenischer Verdichtung, es gibt jähe Schnitte und Brüche in der Szenenfolge wie in der Musik. Anders kann man die Geschichte in Ballettform nicht erzählen.

Woran scheitert der Versuch von Anna und Wronski, ihre Liebe zu leben?
Als Ehebrecherin wird Anna von der Gesellschaft geächtet. Aber auch im italienischen Exil, wo man für beide ja das grosse Glück vermuten könnte, werden sie nicht wirklich glücklich. Es ist die Crux der absoluten Liebe, dass sie scheitert, wenn sie sich von der Gesellschaft isoliert und ihren Sinn allein in der Zweisamkeit zu finden hofft. Alle Liebenden, die sich auf eine einsame Insel zurückziehen, reissen sich nach ein paar Tagen die Haare aus. Wirkliches Glück entsteht erst, wenn Partner in der Lage sind, loszulassen und sich gegenseitig Freiheit und Vertrauen zu schenken.

Wie ist das bei Kitty und Lewin, dem zweiten Paar, von dem der Roman handelt? Finden sie ihr Glück?
Natürlich sind die beiden ein Gegenentwurf zu Anna und Wronski. Kitty und Lewin stürzen nicht leidenschaftstrunken aufeinander zu, sondern finden in einem langwierigen Selbstfindungsprozess zueinander. Ihre Annäherung hat im Roman in der grandiosen Szene des «Kreidespiels» ihren Höhepunkt. Sie gestehen sich darin mit einem geheimen Spiel der Zeichen Zug um Zug ihre Liebe. Ihre Annäherung verläuft leise und vorsichtig und bezieht ihre Energie, anders als bei Anna und Wronski, nicht aus dem Feuer ungezügelter Leidenschaft. Tolstoi erzählt aber auch, dass mit der stärker werdenden Liebesverbindung auch die Gefährdungen grösser werden. Von daher bleiben Zweifel, ob die beiden wirklich glücklich werden. Die glückliche Ehe halte ich sowieso für eine Utopie, weil Ehe ja immer eine schwer einlösbare Begrenzung persönlicher Freiheit bedeutet.

Tolstois Roman spielt in Moskau, St. Petersburg und auf dem Land und bezieht viel Spannung aus den wechselnden Orten und Milieus. Wie gehen Sie auf der Ballettbühne damit um?
Unser Schauplatz ist eine Art Ballsaal, in dem die wechselnden Orte hauptsächlich über die Kostüme des Corps de ballet erzählt werden. Moskau, St. Petersburg, die Landgüter – man merkt, wie das wechselt, aber auch hier gilt: weg vom Buch! Nicht nacherzählen, sondern den Figuren nachspüren. Ein wichtiges Motiv im Roman ist die Eisenbahn, «schwerfällige, dröhnende und dampfende Züge, die Tolstois Gestalten von einem Ort zum anderen und vom Leben in den Tod befördern», wie es der Schriftsteller Vladimir Nabokov formuliert hat. Aber das heisst für mich noch lange nicht, dass ein Zug über die Bühne fahren muss. Das kann und muss man anders lösen. Abstraktion ist Reduktion auf das Notwendigste. Verknappung ist immer auch die Chance, das Wesentliche zu erzählen.

Mit welcher Art Tanzvokabular erzählen Sie die Geschichte?
Wenn man Anna und Wronski mit zwei wunderbaren klassischen Tänzern besetzt, hat das natürlich Konsequenzen für das Bewegungsmaterial. Man muss damit spielen und das Material an den Charakteren ausrichten. Dolly zum Beispiel wehrt sich, anders als im Buch, gegen ihren fremdgehenden Ehemann Stiwa. In ihren Bewegungen spürt man ein Aufbegehren. Lewin etwa ist im Ball- und Salonmilieu der Stadt ein Fremdkörper und Aussenseiter. Er findet erst in der ländlichen Umgebung zu seiner wirklichen, auch tänzerischen Identität.

Sie haben gesagt, Sie legen grossen Wert auf schauspielerische Präzision. Lässt die sich mit einer klassischen Ballettsprache in Einklang bringen?
Auf keinen Fall schliessen sie sich aus. In der Arbeit mit der Compagnie versuche ich, das choreografische Material in eine schauspielerische Dimension zu überführen. Es ist ein grosses Glück für mich, wie die Tänzerinnen und Tänzer mir auf diesem Weg folgen. Sie haben verstanden, dass es mir nicht um blosse tänzerische Virtuosität, sondern um eine auch im Tänzerischen glaubhafte schauspielerische Darstellung geht. Die Ballettsprache darf sich nicht selbst genug sein, sie muss eine Geschichte erzählen und Charaktere entwerfen. Ich muss bis ins letzte Detail verstehen, welche Figuren die Tänzer verkörpern und was sie zum Ausdruck bringen möchten.

Das Gespräch führten Michael Küster und Claus Spahn.
Dieser Artikel erschien im MAG 22, Oktober 2014.
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Gespräch


Mythos Anna

Lew Tolstois «Anna Karenina» gilt als einer der grössten Romane der Literaturgeschichte. Was fasziniert uns so an diesem Stoff? Ein Gespräch mit dem Buchautor Wolfgang Matz, der sich wie nur wenige mit «Anna Karenina» auskennt.

Herr Matz, Sie haben sich mit den berühmtesten Ehebrecherinnen der Literaturgeschichte befasst, mit Emma Bovary, Anna Karenina und Effi Briest. Was sind Gemeinsamkeiten zwischen den Frauen?
Die Frauen bilden ein Dreigestirn. Sie haben alle drei den Romanen ihren Namen gegeben, und die Grundkonstellation ist immer gleich: Eine verheiratete Frau verliebt sich in einen anderen Mann, begeht Ehebruch, verlässt ihre Familie und zahlt am Ende mit dem Leben dafür.

Gustave Flaubert, Lew Tolstoi und Theodor Fontane haben die Romane im 19. Jahrhundert geschrieben, jeweils in einem Abstand von ungefähr 20 Jahren. Gleicht sich ihr Blick auf das Schicksal der Frauen?
Nein, Ihr Interesse an den Figuren ist sehr unterschiedlich. Gustav Flaubert hat eine grosse Sympathie für seine Titelfigur Emma Bovary, aber er hat noch eine viel grössere Sympathie für den Ehebruch. Er will das Amoralische. Er hat schon als Fünfzehnjähriger geschrieben, das Wort adultère (Ehebruch) sei das schönste der französischen Sprache! Tolstoi hingegen ist kein Verfechter des Ehebruchs. Anders als Flaubert urteilt er nicht. Tolstoi will untersuchen, was in einer solchen Situation passiert. Er hört in die Figuren hinein, folgt ihnen, will sie verstehen, und aus dem Verstehen wird eine persönliche Sympathie. Obwohl er das Verhalten von Anna Karenina sicher nicht billigt. Er verurteilt es aber nicht von einem moralischen Standpunkt aus, sondern er hält es für falsch.

Warum hält er es für falsch?
Anna Karenina setzt ihr Leben auf eine einzige Karte, das ist die Liebe. Sie richtet ihre Existenz nur noch aus auf die Liebe zu Wronski. Aber jeder weiss, dass es im Leben noch andere wichtige Dinge gibt – eine gesellschaftliche Existenz, ein ganzes Lebensnetz mit Mann, Kind, Familie, Freunde, Geld, Wohnung, Status usw. Annas Leben spielte sich in der mondänen Petersburger Gesellschaft ab. Das alles gibt sie auf für die Liebe. Aber die Liebe ist ein wackeliges Ding. Sie ist das unsicherste und flüchtigste Element im Leben des Menschen, das weiss Tolstoi ebenso gut wie wir. Das Herz ist ein elastisches Organ. Und deshalb hält er es für falsch, alles auf die Karte der Liebe zu setzen. Seiner Meinung nach kann man ein Leben unter solchen Prämissen nicht führen, auch die grösste Liebe hat ihren Sinn nur im gesamten Netz des Lebens.

Mit welcher inneren Einstellung begeht Anna Karenina den Ehebruch?
Das wird im Vergleich zu Emma Bovary sehr deutlich. Emma sucht seit Jahren nach dem Mann für den Ehebruch. Anna aber sucht gar nicht. Womöglich war ihre Ehe bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie Wronski getroffen hat, gar nicht unglücklich.

Aber sie sagt, ihr Mann Alexej habe sie nicht geliebt.
Das sagt sie, nachdem ihre Affäre mit Wronski bereits ihren Lauf genommen hat, und das nimmt man dann gerne für bare Münze. Aber im Buch wird über die acht Jahre Ehe von Anna und Alexej Karenin so gut wie nichts erzählt. Wenn sie später sagt, er habe sie nicht geliebt, ist das auch die Schutzbehauptung einer Frau, die zu einem anderen Mann will. Es wird schon ein Teil Wahrheit dran sein, aber wie gross der wirklich ist, wird von Tolstoi nicht gesagt. Bei Emma Bovary wird uns lang und breit erzählt, warum sie einen anderen will, bei Anna nicht. Völlig unvorbe­reitet begegnet sie auf dem Bahnhof diesem Mann, und es trifft sie, wie man so schön sagt, der Blitzschlag.

Stürzt Anna also in ihr Verderben, weil sie eine grosse Liebende ist?
Da möchte ich nochmal auf Flaubert verweisen. Sein Verdienst ist es, dass er den Begriff der reinen oder wahren Liebe zerstört. Er erzählt in seinem Roman: Liebe ist auch nur ein Wort, und unter diesem Wort versteht jeder etwas anderes. Auch Emma bildet sich ein, ihre Liebhaber zu lieben. Liebe ist als psychisches Phänomen ja immer eine Form von «Einbildung», darin liegt ihr Wesen. Aber Flaubert überzieht Emmas Vorstellungen von Liebe mit Hohn und Spott. Er zeigt, dass die Aussage «A liebt B» nichts erklärt. Nach Flaubert ist es für den Leser eigentlich unmöglich geworden, noch am Begriff von der reinen, sozusagen grundlosen Liebe festzuhalten.

Wie ist das bei Tolstoi?
Tolstoi führt nicht aus, dass Anna falsche oder verklärte Vorstellungen von Liebe hat. Insofern lässt er sie tatsächlich aus Liebe in diese Geschichte stürzen. Tolstoi tut gewisser­massen so, als ob klar wäre, was es heisst, zu lieben.

Aber versuchen Anna und Wronski nicht genau diesen Traum von der wahren, durch nichts anfechtbaren Liebe zu leben, indem sie die Petersburger Gesellschaft hinter sich lassen und nach Italien fliehen?
Dieses Fluchtthema ist hochinteressant, denn diese «Lass uns fliehen»-Sehnsucht ist ja der romantische Traum schlechthin. Warum fliehen Anna und Wronski? Erstens, weil die Lebenssituation in der Petersburger Gesellschaft für Anna als Ehebrecherin unmöglich geworden ist, sie muss da raus, und zweitens, weil die beiden es sich leisten können. Sie gehen auf grosse Reise, wie das unter den wohlhabenden Adeligen in Russland durchaus üblich war. Tolstoi zeigt, dass die sogenannte grosse Liebe für eine gelingende Beziehung allein nicht reicht, und er macht klar, dass der Traum – in die Tat umgesetzt – zum Albtraum wird. Liebe ohne soziale Bindungen, ohne eine Welt, in der man sich bewegt, funktioniert nicht. Tolstoi hält die Verabsolutierung des Gefühls für falsch. Kein Mensch kann sich sein ganzes Leben lang ausschliesslich damit beschäftigen, zu lieben.

Eigentlich denkt man doch, Annas verbotene Liebe zu Wronski scheitert an den strengen Normen der Gesellschaft. Sie aber glauben, dass die Liebe sie ruiniert, indem sie sich von der Gesellschaft abkoppelt?
Das ist ein komplexes Wechselspiel. Selbstverständlich hindert die Gesellschaft Menschen an der Verwirklichung bestimmter Formen der Liebe. Das erfährt Anna in Petersburg. Aber auf der anderen Seite ist die Gesellschaft mit ihren Regeln Basis und Rahmen für eine gelingende Liebe. Wenn ich die Welt von heute anschaue, in der gesellschaftliche Restriktionen ja viel weniger eine Rolle spielen als im zaristischen Russland, kaum mehr vorhanden sind, habe ich trotzdem nicht den Eindruck, dass die Summe der Glücklichen unter den Liebenden grösser geworden ist, eher im Gegenteil. Davon handeln zum Beispiel die Romane von Michel Houellebecq.

Woran machen Sie das Scheitern der Liebe von Anna und Wronski in Italien fest?
Ganz einfach: Die beiden wissen nach einer Weile nicht mehr, womit sie ihre Tage füllen sollen. Ihre Beschäftigungen sind die reicher Adeliger. Sie müssen nichts tun, sie können es auch jederzeit lassen. Und insbesondere Wronski vermisst sein bisheriges Leben. Anna war für ihn der Traum, gewiss, aber er würde auch gerne mal wieder mit seinen Kumpanen ein paar Flaschen leeren. Man kann es noch trivialer formulieren: Jeder Verliebtheitszustand transformiert sich irgendwann in etwas anderes, und nicht nur Tolstoi würde sagen: Zum Glück! Wenn Wronski den Drang verspürt, mal wieder etwas anderes zu machen, versteht Anna das sofort als ein Abrücken von ihr. Annas Angst, dass Wronski sich von ihr entfernt, hat damit zu tun, dass sie nicht mit Wronski verheiratet ist, dass die Beziehung nicht legal ist und nur auf der Liebe gründet. Es fehlt der Rahmen der Ehe. Der ermöglicht es, mit den unvermeidlichen Veränderungen von Gefühlen in einer Liebesbeziehung umzugehen. Das zu zeigen, war für Tolstoi, glaube ich, ein wichtiger Punkt.

Also urteilt Tolstoi doch und kritisiert die kopflose, «wilde» Liebe?
Das lässt sich so einfach nicht sagen. Ein paar Jahre später steht er auf dem Standpunkt, dass nicht der Ehebruch das moralische Skandalon ist, sondern die Ehe selber. Es gibt ein Zitat aus seinen Tagebüchern: «Das Leben von Menschen so beschreiben, dass man mit der Schilderung der Hochzeit abbricht, ist nicht anders, als beschriebe man die Reise eines Mannes und bräche den Bericht an der Stelle ab, wo er Räubern in die Hände fällt.» Das ist schon starker Tobak.

Aber solche Fundamentalkritik an der Ehe übt er in «Anna Karenina» ja noch nicht.
Nein. Die grosse künstlerische Leistung, die Tolstoi in Anna Karenina vollbringt, liegt in der Fülle des Erzählens, der Fülle der Perspektiven und dem Auffächern all dessen, was möglich ist. Der Roman bewegt sich jenseits von moralischen Urteilen. Er erzählt die Geschichte einer Frau, die sich heillos in ihrem Leben verstrickt und da nicht mehr hinausfindet. Dass in jede Darstellung dabei auch eine Wertung einfliesst, ist unvermeidlich.

Wir haben bisher nur über die Liebe von Anna Karenina und Wronski gesprochen, aber der Roman erzählt ja noch von anderen Paaren. Wie verhalten sich diese verschiedenen Erzählstränge zueinander?
Der Roman heisst Anna Karenina, obwohl – überspitzt gesagt – die Hälfte des Romans mit der Titelfigur gar nichts zu tun hat. Tolstoi entwickelt parallel die Liebesgeschichte zwischen Kitty und Lewin, und es gibt mit Stiwa und Dolly noch ein drittes Paar, dessen krisenhafte Foto: Ehegeschichte erzählt wird. Tolstoi hat trotzdem Recht, den Roman Anna Karenina zu nennen, denn Anna ist nun mal eine hinreissende und dominierende Figur, nicht unbedingt in quantitativer, sondern in qualitativer Hinsicht.

Lewin, ein Mann des Landlebens und kauziger Aussenseiter in der Petersburger Gesellschaft findet zu der jungen, noch backfischhaften adeligen Schönheit Kitty. Sie weist sein Werben zunächst zurück, weil sie in Wronski verliebt ist, aber im Verlaufe des Romans finden die beiden doch zusammen. Sie heiraten und werden glücklich. Ist das die positive Gegengeschichte zu Annas und Wronskis Katastrophe?
Natürlich ist es die Gegengeschichte. Aber ob das wirklich ein ungetrübtes Glück ist, bleibt offen. Ich finde, dass man in der Beschreibung des Ehealltags der beiden schon den späteren Tolstoi erahnt, der gesagt hätte: Die Ehe ist das Schlimmste, auch diese beiden müssten sich eigentlich trennen. Schliesslich äussert Lewin nach der Hochzeit Selbstmordgedanken…

…und zwar so starke, dass er das Gewehr zu Hause lassen muss…
Die Szene steht auf brutale Weise da und wird überhaupt nicht erklärt. Da spürt man Tolstois Thema, dass auch das Eheglück nicht alles ist. Selbst wenn die Sache positiv läuft, kommt die grosse Ernüchterung. Bei Freud gibt es eine Untersuchung über die unausweichliche Enttäuschung bei eintretendem Glück. Es dauert lange, bis Kitty und Lewin zueinander finden, und die Erwartungen, die sich da aufgebaut haben, kann die Ehenormalität unmöglich sofort einlösen.

Tolstoi überzeichnet in der Beschreibung das Hochzeitsglück der beiden so sehr, dass es fast karikaturhafte Züge annimmt.
Und was ihnen am Ende bleibt, ist nicht nur eine unromantische, sondern eine antiromantische Perspektive.

Ist «Anna Karenina» eigentlich ein Liebesroman? Sie schreiben ja in Ihrem Buch, dass der Roman viel mehr von der Einsamkeit des Menschen an sich erzählt im Gegenüber des Todes. Wo zeigt sich das?
Das für Anna immer stärker werdende Gefühl, ihr Geliebter entferne sich von ihr, empfindet sie als tödliche Bedrohung. Sie hat ja alles andere um diese Liebe herum zerstört. Es bleibt ihr nichts mehr jenseits von Wronski. Sie ahnt, dass der Tod am Ende dieses Wegs stehen muss. Da neigt sie zu einer pathetischen Sichtweise und übertreibt mitunter auch. Die Angst vor dem Nichts bemächtigt sich ihrer immer mehr bis hin zum Selbstmord. Doch am Ende wirft sie sich nicht nur im Bewusstsein finaler Ausweglosigkeit vor den Zug, sie will mit ihrer Tat Wronski bestrafen. Sie ist immer noch in der fatalen Liebesspirale verstrickt, doch ist sie sich in ihrem Leben nie so fremd gewesen wie im Moment des Selbstmordentschlusses.

Wenn der Roman aber mehr eine Geschichte über Einsamkeit zum Tode ist, was ist dann mit all den Hollywood-Filmen und Theaterstücken, die den «Anna Karenina»-Stoff als schwelgerisch-tragische Liebesromanze vorführen? Ist das alles ein Missverständnis?
Ja. Das könnte man so sagen.

Der Literat kriegt also Anfälle, wenn er «Anna Karenina»-Kinofilme sieht?
Ich gucke mir das nicht an. Ich weiss, dass man mit solchen Filmen den Bereich der Literatur verlässt. Das ist dann halt so. Interessant wird es, wenn die Übertragung in eine andere Kunstform dem Stoff etwas hinzufügt, mit eigener Logik und eigener künstlerischer Konsequenz.

Missverständnisse hin oder her, der Stoff übt bis heute einen starken Sog auf das Publikum aus. Was spricht denn da so stark zu uns, zumal das Thema Ehe und Ehebruch sich heute doch gar nicht mehr so stellt?
Es ist einfach ein grossartiger Roman, und das Thema Liebe, Treue, Verrat hat sich vielleicht doch weniger verändert, als man zu glauben geneigt ist. Und es ist in gewisser Weise eben doch möglich, Anna Karenina als Liebesroman zu lesen, im Gegensatz zu Flauberts Emma Bovary, wo es nahezu unmöglich ist, sich mit den Figuren zu identifizieren. Was Flaubert natürlich nicht zufällig unterlaufen ist. Die objektive Kälte, die dem Roman nachgesagt wird, ist bewusst angelegt. Die hat Anna Karenina überhaupt nicht. Die künstlerische Grösse von Tolstois Roman liegt darin, dass er alle Probleme, Widersprüche und offenen Fragen in sich aufnimmt. Die Fragen, die wir uns jetzt hier gestellt haben, sind zwar alle extrem wichtig, bleiben aber unterhalb der Ebene des Romans. Das Kunstwerk weiss mehr.


Wolfgang Matz ist Buchautor und Lektor im Hanser Verlag München, wo er die 2009 erschienene Neuübersetzung von «Anna Karenina» betreut hat. Sein neuestes Buch, «Die Kunst des Ehebruchs», ist im Wallstein Verlag Göttingen erschienen.

Das Gespräch führten Claus Spahn und Michael Küster.
Dieser Artikel erschien im MAG 22, Oktober 2014.
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Fotogalerie

 

Bilder «Anna Karenina»


Volker Hagedorn trifft...


Paul Connelly

Der gebürtige Amerikaner studierte am New England Conservatory in Boston und war Erster Kapellmeister des American Ballet Theatre (ABT). Unter der Leitung des weltweit gefragten Ballettdirigenten wurde «Anna Karenina» von Christian Spuck nebst Zürich auch in Oslo und Moskau aufgeführt. Volker Hagedorn traf Paul Connelly vor der Wiederaufnahme 2017.

Blauer Himmel über Paris bei vierzehn Grad plus. Das hat an einem Mittag kurz vor Weihnachten etwas Surreales, ebenso wie ein stilles, leeres Lokal mitten in der Stadt, einen Katzensprung vom Centre Pompidou entfernt, bestens versteckt und keinem Touristen bekannt – wohl aber Paul Connelly, der seit vierzehn Jahren an der Seine lebt und wohlweislich reserviert hat. Wie alle, die sich im Laufe der Mittagsstunden an die Tische im kleinen Lokal setzen und irgendwann so munter durcheinander lärmen, dass ich mir Sorgen um das Fassungsvermögen des winzigen Mikrofons mache. Bloss gut, dass Paul so klar wie baritonal spricht. Die Stimme eines Mannes, der sich gern unterhält.

Es stört ihn gar nicht, dass ich über ihn nicht viel mehr herausfinden konnte, als dass er, schon seit langem, an den grössten Häusern mit den besten Choreografen arbeitet, und dass er, natürlich, in Zürich die aktuelle Ballettproduktion Anna Karenina dirigiert. Man findet seinen Namen in einer Menge von Rezensionen, aber es gibt keinen Eintrag bei Wiki, keine Website, keine PR-Abteilung. Wie alt mag er sein? In den Fünfzigern? Die dunklen Augen unter schwarzen Haaren funkeln jünger, das Gesicht mit leicht indianischem Teint ist das eines Geniessers. Er empfiehlt foie gras, in der Pfanne gebraten.

Sein Alter soll ich für mich behalten. In diesem Punkt eignet ihm die Zurückhaltung der Tänzer, die sein Leben prägten. Zwar war Paul Connelly niemals nur Ballettdirigent, und sein Debüt am Pult gab er mit Porgy and Bess, aber ohne den Tanz wäre alles anders gelaufen für den jungen Mann aus Buffalo im US-Staat New York, der, mehr auf Wunsch seiner Eltern als den eigenen, in Boston Klavier studierte zu einer Zeit, als dort junge Dirigenten wie Seiji Ozawa und Claudio Abbado mit den Studenten arbeiteten. Bei einem Picknick im heimischen Bufallo lernte er David und Anna Maria Holmes kennen, ein bekanntes kanadisches Tänzerpaar, und sie befreundeten sich. «Die Compagnie zog nach London, ich folgte ihnen mit meiner Freundin. Und dort sahen wir eines Abends eine Choreografie von Maurice Béjart. So etwas hatte ich noch nie gesehen, das war wirklich der Gipfel, I was pretty blown off. Ich ging nach der Show zu Béjart und sagte, ich bin kein Tänzer, sondern Pianist, aber wenn es irgendeinen Weg gibt, mit Ihnen zu arbeiten, würde ich alles dafür tun.» Er nimmt Tanzunterricht, um sich an Béjarts legendärer Brüsseler Schule Mudra bewerben zu können. Er wird angenommen. «Da hab ich tatsächlich ein Jahr Tanz studiert. Aber das Beste war, Béjart bei der Arbeit mit der Compagnie zuzusehen.»

Dann zieht Paul nach New York, schlägt sich durch als Korrepetitor, wandert zur Oper nach Minnesota und über Santa Fé nach San Francisco, wo er als assistant conductor alles macht, «auch aufpassen, dass sich die Sänger im Haus nicht verlaufen». Dazu gehören immerhin Gäste wie Joan Sutherland, Kiri Te Kanawa, Birgit Nilsson, die jungen Tenöre Pavarotti und Carreras. Er springt bei einer Tourneeproduktion von Porgy and Bess für den erkrankten Dirigenten ein, arrangiert für eine Minitruppe diverse Opern für zwei Klaviere, «wirklich eine gute Schule», schliesslich gerät er ans American Ballett Theatre, dessen Dirigent John Lanchbery sein Porgy-Mitschnitt gefallen hat.

Das American Ballett Theatre in New York ist zu der Zeit legendär. «Michail Baryshnikow, Natalja Makarowa, solche Tänzer!» Nur den rising star der achtziger Jahre nennt er bescheiden nicht, Susan Jaffe, die Ballerina, mit der er zusammen lebte und über die er damals sagte: «Die Vorbereitungen auf einen Flug mit dem space shuttle verblassen neben denen eines Tänzers auf die nächste grosse Saison.» Er lacht, als ich den alten Artikel zitiere. «Das stimmt schon. Wenn man die Zahl der Trainingsstunden und der Probenstunden vergleicht mit der Zahl der Minuten auf der Bühne, versteht man, warum Tänzer sich so viel Sorgen machen um den Moment, in dem sie da draussen sind. Sie brauchen Unterstützung.»

Ein Ballettdirigent muss wissen, wer ein Springer ist und wer nicht, und dass Grossgewachsene für manches mehr Zeit brauchen. «You can kill a dancer, wenn du zu schnell oder zu langsam bist.» Darum sind die Tempi ein grosses Thema. Selbst er höre von Tänzern noch: «Das war gut, aber bitte nicht schneller. Dann sage ich, danke, gern, ich hatte eigentlich vor, es beim nächsten Durchlauf zwanzigmal so schnell zu machen.» Neulich rief ihm ein Ballettmeister aus dem Parkett zu, er sei zu schnell. «Ich sagte nur, oookay, versuchen wir es nochmal, und dirigierte exakt dasselbe Tempo. Da sagte er: THAT’s the good one. Manche müssen einfach ihr bisschen Macht haben.» In Zürich läuft es entspannter. «Christian ist ein so guter Musiker, sensibel und offen für das, was Musik bedeutet, und er nimmt den Dirigenten ernst.» Das sagt er nicht, weil wir uns hier für die Oper Zürich treffen. Er war skeptisch, als er vom Konzept einer musikalischen pastiche für Anna Karenina erfuhr. «Eine pastiche, oouuhh… aber er macht das einfach gut und bringt frische Luft in das Tanzvokabular, das muss ja ständig revolutioniert werden. Deswegen wirken heute selbst Béjarts Kreationen überholt.»

Wie aber hat es den Tänzerversteher Paul Connelly nach Paris verschlagen? «Ein paar Jahre lang flog ich hin und her zwischen New York und Europa, dann beschloss ich, in Europa zu bleiben, zunächst in den Niederlanden, dann machte ich immer mehr an der Pariser Oper.» Und da gab es diese Tänzerin, von der alle Choreografen sagten: «I want HER.» Er wollte sie auch. Ein Jahr später kam die gemeinsame Tochter zur Welt, die jetzt dreizehn ist. «Aber mein Französisch ist immer noch…» Er verdreht die Augen und bestellt mit schwerem Akzent einen dahinschmelzenden Schokoladenkuchen.

Zum Nachtisch tauchen wir nochmal in seine frühen Jahre: Welcher Dirigent hat ihn besonders beeindruckt? «Good question! Bernstein!» Als Paul 1977 bei einer Gedenkfeier für Isadora Duncan am Flügel Brahms spielte, «fühlte ich, dass jemand hinter mir stand». Das war Bernstein, der als nächster dran war. «You know, that was really good», habe ihm Lenny gesagt, Paul imitiert perfekt die raue, langsame Sprechart. Anschliessend ging es in ein Restaurant, «wie in einem Traum! Da war Bernstein, da war Stephen Sondheim, der Autor der West Side Story, Jerome Robbins, der grosse Choreograf.» Paul gab Bernstein eine Aufnahme, «yeah, give it to my driver... Er kriegte jeden Tag 5000 Kassetten». Aber er hörte sich den Mitschnitt an, lud Paul ein zu einem Symposium junger Dirigenten und irgendwann nach einem Konzert zu sich nach Hause: «Das war im Dakota Building, in dem auch John Lennon lebte. Es gab da acht oder zehn riesige Apartments, Bernsteins Küche war etwa so gross wie bei anderen Leuten das ganze Haus. Und der Typ, der vor einer Stunde noch ganz ernst Brahms dirigiert hatte, wollte jetzt mit Michael Tilson Thomas Bess you is my woman machen. Tilson Thomas sass am Klavier und sang Porgy, Bernstein kroch auf dem Boden herum und sang. Als Bess! He was such a character und funny

Wenn Paul über solche Begegnungen nachdenkt, wird er streng mit dem jungen Mann, der er war. «Ich hätte meine Hausarbeiten machen und besser über diese Leute Bescheid wissen müssen. Wie sie dahin gekommen waren, wo sie waren. Und wie viel sie taten, um ihre Kunst zu verstehen. Heute ist das natürlich viel leichter herauszufinden…» Es sei denn, einer wie Paul Connelly gibt im Netz so wenig von sich preis. Lieber empfiehlt er andere. «Haben Sie Verdis Requiem in Zürich gesehen? Nein? Fabio Luisi dirigiert das. Er zeigt genau das, was nötig ist. Keine Bewegung zu viel.» Es klingt, als seien für Paul Dirigenten auch Tänzer. Aber sie dürfen trotzdem foie gras und Schokoladenkuchen essen.

Text von Volker Hagedorn.
Dieser Artikel erschien im MAG 45, Januar 2017.
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Audio-Einführung zu «Anna Karenina»

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