Dieser Artikel erschien im Juni 2018.
Ottavio Dantone, Sie haben lange Zeit darauf verzichtet, Monteverdi zu dirigieren; erst vor zwei Jahren mit einer Aufführung des Orfeo in Lausanne sind Sie wieder zu diesem Komponisten zurückgekehrt. Was war der Grund dafür?
Als ich vor 15 Jahren an verschiedenen italienischen Theatern alle drei MonteverdiOpern einstudierte, war ich sehr unzufrieden mit dem Resultat. So sehr, dass ich nie wieder Monteverdi machen wollte. Ich empfand es damals als sehr schwierig, den Sängerinnen und Sängern zu vermitteln, was die Essenz der Musik Monteverdis ist: das recitar cantando nämlich, das «singende Sprechen» oder «sprechende Singen», das sowohl auf dem Rhythmus des Sprechtheaters basiert als auch auf dem Rhythmus der Musik. Meiner Meinung nach geht der Rhythmus, den Monteverdi für die Gesangsstimmen geschrieben hat, auf den Rhythmus der gesprochenen Sprache im Sprechtheater der damaligen Zeit zurück. Dieser Rhythmus ist zwar in den Noten ausgeschrieben; das recitar cantando sollte – innerhalb gewisser rhythmischer Grenzen – sehr frei wirken. Das scheint ganz einfach zu sein. Aber es gelang keinem der Sängerinnen und Sänger, mit denen ich damals zu tun hatte. Entweder war es zu frei, oder es war zu sehr das, was in den Noten stand. Inzwischen habe ich viel mehr Erfahrung sowohl mit der Musik des Barock als auch in der Arbeit mit Sängern und dachte, vielleicht gelingt es mir nun besser, zu vermitteln, worum es geht. Meine eigene Interpretation interessiert mich dabei übrigens überhaupt nicht. Was mich interessiert, ist, die Emotionen zu erzeugen, die für eine lebendige Aufführung nötig sind.
Wenn man als Dirigent eine Neuproduktion von Monteverdis Poppea vorbereitet, gilt es zunächst, einige grundlegende Entscheidungen zu treffen, vor allem die, welche Fassung man für die Aufführung verwenden möchte: Das Originalmanuskript der Oper ist verschollen, es existieren nur zwei Abschriften, die sich jedoch stark voneinander unterscheiden. Wie sind Sie vorgegangen?
Das Manuskript aus Neapel scheint eine Bearbeitung des Manuskripts aus Venedig zu sein, das wiederum eine Abschrift des Originals ist. Für mich liegt die Wahrheit in der Mitte. Zu Monteverdis Zeit war es normal, dass Kopien oder Abschriften Unterschiede aufwiesen gegenüber dem Originalmanuskript. Man hat die Partitur an die Gegebenheiten der jeweiligen Aufführung angepasst – sei es, weil man andere Sängerinnen und Sänger zur Verfügung hatte, sei es, weil die Orchesterbesetzung eine andere war oder man an einem anderen Ort einen anderen musikalischen Stil bevorzugte. So sind die Ritornelle für Orchester im Manuskript aus Neapel vierstimmig, im Manuskript aus Venedig aber nur dreistimmig. In beiden Versionen haben die Ritornelle die gleiche harmonische Basis, nur die Instrumentierung ist anders. Für mich besteht die musikwissenschaftliche Arbeit nicht darin, auszuwählen, welches Manuskript das richtige ist. Das ist nicht die Musikwissenschaft. Denn ebendiese Musikwissenschaft sagt ja, dass kein gültiges Manuskript existiert. Im 17. Jahrhundert, aber auch im 18. und bis ins 19. Jahrhundert unterschieden sich verschiedene Aufführungen des selben Stückes stark voneinander. Ich habe mich entschieden, eine Fassung zu spielen, die vom venezianischen Manuskript ausgeht – mit den Änderungen, die für unsere Besetzung notwendig sind. So verwenden wir zum Beispiel die vierstimmigen Ritornelle aus Neapel, denn hier am Opernhaus Zürich haben wir das volle Orchester zur Verfügung, mit allen Streichern und Bläsern.
Man dachte also zu Monteverdis Zeit theaterpraktisch?
Ja, und entsprechend besteht für mich die philologische Arbeit darin, den richtigen Ausdruck, die richtige Sprache für unsere Aufführung zu finden. Die Basis dafür ist nicht irgendein Original, das es sowieso nicht gibt, sondern der Versuch, zu verstehen, wie Monteverdi und seine Zeitgenossen gedacht haben, auf rhetorischer und auf psychologischer Ebene, und wie Emotionen erzeugt wurden.
Auch in Bezug auf die Instrumente, die Monteverdi für seine Poppea verwendet hat, gibt es keine gesicherten Informationen, Sie müssen also als Dirigent selbst entscheiden, wie das Orchester zusammengesetzt ist.
In seiner Orfeo-Partitur von 1607 listet Monteverdi alle Instrumente auf, die er damals verwendet hat. Das war übrigens eine grosse Ausnahme; zu Beginn des 17. Jahrhunderts schrieb niemand die Instrumentation aus, in den Noten findet sich normalerweise lediglich der Basso continuo. Die Instrumentation des Orfeo kann uns als Inspiration dienen – es ist aber keine Wahrheit, an die man sich sklavisch halten müsste. Wir wissen dadurch immerhin, dass Monteverdi viele «mystische» Instrumente wie Cornetti, Trombe, Posaunen, Harfen, Flöten, Clavicembali, Theorben verwendet hat – also eine sehr reiche Instrumentation bevorzugte. Die Zusammensetzung des Orchesters hing von der Grösse des Saales ab und vom Platz, der für das Orchester zur Verfügungstand (das übrigens niemals im Graben sass, sondern immer auf der Bühne) und natürlich von den Klangfarben, die man erzeugen wollte. Für Poppea habe ich entschieden, keine Posaunen zu benutzen, denn diese wurden normalerweise für Situationen verwendet, die in der Unterwelt spielten. Aber ich habe versucht, möglichst viele verschiedene Klangfarben zur Verfügung zu haben. In unserem Orchester gibt es Cornetti, Violinen und Flöten, und im Basso continuo Harfe, Theorbe, Laute, Gitarre, zwei Cembai, Orgel, Viola da gamba und Violone, also ein Kontrabass mit fünf Saiten. Damit habe ich die Möglichkeit, jede theatralische Situation musikalisch zu kommentieren.
Verwenden Sie für die Begleitung der Figuren jeweils unterschiedliche Instrumente?
In einer komischen oder grotesken Situation verwende ich das Dulcian, einen Vorgänger des Fagotts. Wenn ich dagegen Seneca begleite, verwende ich eher die Orgel und den Kontrabass. Wenn Helligkeit und Weichheit gefragt sind – zum Beispiel für Amore –, spielen Harfe und vielleicht eher die Laute statt der Theorbe, die viel tiefer klingt. Wenn ich Rhythmus und Swing möchte, spielt die Gitarre. Es geht dabei nie um meinen persönlichen Geschmack, sondern darum, die ursprüngliche Idee des Stückes wiederherzustellen. Ich kann jede Entscheidung, die ich in Bezug auf die Instrumentation getroffen habe, in jedem einzelnen Takt genau begründen. Ich bediene mich einer wissenschaftlichen Herangehensweise, um grösstmögliche Natürlichkeit, grösstmögliche Freiheit zu erreichen.
Mit welchen Instrumenten begleiten Sie den verrückten Kaiser Nero?
Das ist ganz von der jeweiligen theatralen Situation abhängig. Es gibt Momente, in denen Nero zwar verrückt, aber zärtlich ist. Dann wird er auch entsprechend mit zarten Instrumenten begleitet. Wenn dagegen seine Verrücktheit im Vordergrund steht, wird auch die Auswahl der Instrumente entsprechend ausfallen. So ist es bei allen Figuren des Stücks, es ist immer abhängig von der Bühne, von der Situation.
Die musikalische Interpretation ist also in diesem Fall eine sehr kreative Arbeit?
Ja, wobei ein Teil dieser Arbeit immer spekulativ bleibt.
Neben der Instrumentation ist auch die Besetzung der Singstimmen nicht einfach zu entscheiden; Nero zum Beispiel wird in manchen Aufführungen von einer Frau oder sogar von einem Tenor gesungen; bei uns ist es David Hansen, ein Countertenor, der sehr hoch singen muss.
Wir wissen, dass zu Monteverdis Zeit die Kastraten die am häufigsten verwendeten Sänger waren. Heute gibt es keine Kastraten mehr, das ist das Hauptproblem, wenn wir diese Musik aufführen wollen. Es gibt natürlich KastratenRollen, die von Männerstimmen gesungen werden könnten. Nero gehört nicht dazu. Ihn mit einem Tenor zu besetzen, ginge vollkommen an der Idee Monteverdis vorbei. Denn der musikdramatische Grund dafür, dass er so hoch singt, liegt in der Figur, die etwas Verrücktes, Hysterisches hat. Diese Rolle liegt sehr hoch, das ist sehr anstrengend für einen Countertenor – aber genau um diesen angespannten, angestrengten Effekt geht es! Ottone dagegen singt bei uns eine Frau, Delphine Galou, denn diese Rolle wiederum liegt für einen Countertenor sehr tief, für einen Contralto dagegen genau richtig – obwohl die Figur natürlich ein Mann sein müsste. Aber ein Contralto, also eine sehr tiefe Frauenstimme – diese Stimmlage ist übrigens sehr selten – hat immer etwas Androgynes. Man muss dazu auch sagen, dass es in der Zeit Monteverdis durchaus üblich war, dass Frauen Männerrollen sangen und umgekehrt. Das Spiel mit der Ambiguität war sehr beliebt. Johann Adolph Hasse hat eine Oper komponiert, Marc Antonio e Cleopatra, in der es nur zwei Figuren gibt; Marc Antonio wurde von einer Frau gesungen, Cleopatra von einem Mann! In Poppea sind die beiden Ammen, Arnalta und Nutrice, auch Männer, allerdings keine Kastraten, sondern sogenannte HautContres, also sehr hohe Tenöre. Unsere Besetzung weist eine sehr grosse Vielfalt an Timbres auf; diese starken Kontraste sind natürlich bereits im Stück selbst angelegt.
Poppea ist ja 1642/43 nicht für ein höfisches Theater komponiert worden, sondern für das erste öffentliche Theater in Venedig; die Oper musste sich also gut verkaufen. Hat dieser Umstand Monteverdis Art und Weise zu komponieren beeinflusst?
Das glaube ich nicht. Monteverdis Stil ist grundsätzlich sehr theatralisch. Man weiss ja übrigens heute, dass das Stück gar nicht zur Gänze von Monteverdi geschrieben wurde. Es ist ein Pasticcio, wahrscheinlich von mehreren Autoren. Aber wer auch immer es komponiert hat, war ein Genie in Bezug auf Musikdramatik. Es gibt frühere Opern, die für höfische Theater komponiert wurden und in gewisser Weise musikalisch raffinierter sind. Orfeo und Poppea unterscheiden sich stark – Poppea ist sehr viel ex pressiver, man könnte sogar sagen, extrovertierter angelegt. Allerdings liegen zwischen Orfeo und Poppea auch 30 Jahre. Opern von Monteverdi aus der Zeit zwischen den beiden Werken sind – abgesehen von Il ritorno d’Ulisse in patria – nicht erhalten. Natürlich hat sich Monteverdis Art zu komponieren in diesen 30 Jahren weiterentwickelt, auch das Theater insgesamt hat sich weiterent wickelt, und Monteverdi hat mit der Zeit gelernt, die Herzen aller Zuschauer zu erreichen, nicht nur diejenigen mit einer musikalischen Bildung. In Poppea gibt es ja keinerlei allegorische Figuren, in denen sich ein Herrscher hätte spiegeln müssen; es ist eine pseudohistorische Geschichte über Liebe, Erotik, Verrat und Tod, die für jeden verständlich ist. Sowohl in Poppea als auch in Ulisse spürt man sehr stark, dass der visuelle, theatralische, dramatische Aspekt immer mitgedacht wurde. Es ist sehr beeindruckend, dass gleich eine der ersten Opern überhaupt dramaturgisch und theatralisch so gut funktioniert.
Besonders bemerkenswert an dieser Geschichte ist, dass sie keine Moral hat – Poppea geht im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen, wird am Ende aber mit der Krone belohnt …
Am Ende siegt die Liebe. Die Oper erzählt nicht, dass Poppea später von Nero ermordet wurde. Das damalige Publikum wusste das natürlich. Aber es war normal, historische Fakten für die Oper so zu verändern, dass ein «lieto fine», ein Happy End, möglich wurde; das war einfach die Konvention. In der Oper wird der Ehebruch Neros und schliesslich die Trennung von seiner Frau Ottavia verhandelt; ausserdem geht es um Verrat; Neros Lehrer, der Philosoph Seneca, wird zum Selbstmord gezwungen; es wird gesagt, dass der Herrscher ein Dieb ist. Das ist alles ziemlich krass, regelrecht zynisch. Es zeigt die Realität so, wie sie zu Monteverdis Zeit in Italien anzutreffen war. Diese Amoralität ist das Überraschendste an diesem Libretto …
… und kommt uns heute unglaublich modern vor. Welches sind die faszinierendsten Momente in «Poppea»?
Da gibt es mehrere. Zunächst der erste Auftritt von Poppea und Nerone, der unglaublich erotisch ist. Die Partie der Poppea liegt hier für eine Sopranstimme sehr tief, es ist eigentlich mehr ein Hauch gemeint als Gesang. Man spürt in der Musik, dass hier zwei Menschen auf der Bühne stehen, die direkt aus dem Bett kommen. Überhaupt ist Poppea eine sehr erotische Figur. Ihre erste Szene wird auch dadurch noch wirkungsvoller, dass sie in heftigem Kontrast steht zur vorhergehenden Szene mit Ottone, ihrem ehemaligen Liebhaber, der noch immer in sie verliebt ist und vor ihrem Balkon voller Sehnsucht auf sie wartet; er muss schliesslich erkennen, dass Nero gerade bei ihr ist. Auch eine Szene Ottones finde ich sehr poetisch: Er plant später im Stück, Poppea zu ermorden, und sagt an dieser Stelle: Ich werde verbannt sein, aber im Paradies. Dazu erklingt eine fantastische Musik. Auch der Tod Senecas ist sehr berührend. Und das letzte Duett von Poppea und Nero, mit dem die Oper endet, ist ein regelrechter Pop-Song. Es ist für mich wie ein Lied von den Beatles, geschrieben für ein grosses Publikum. Ein bisschen auch wie die Filmmusik von Ennio Morricone – absolut perfekt in ihrer Einfachheit.
Ausgerechnet dieses wundervolle Duett allerdings stammt gar nicht von Monteverdi …
… nein, das hat wohl Benedetto Ferrari geschrieben. Für eine Musik wie diese braucht man kein Genie zu sein. Es gibt Millionen ähnlicher Stücke aus der Zeit – eine einfache Ciaccona, die auf einem Basso ostinato beruht. Faszinierend sind die Harmonien, die durch die ausgehaltenen Noten von Poppea und Nerone entstehen und eine unglaubliche Spannung erzeugen. Dass die Oper mit einem so zarten Duett und nicht mit einem fröhlichen Chor oder einer tänzerischen Sinfonie aufhört, ist übrigens für die Zeit sehr ungewöhnlich und äusserst wirkungsvoll.
Das Gespräch führte Beate Breidenbach.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 60, Juni 2018.
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