Schwanensee
Musik von Pjotr Tschaikowski (1840-1893)
Libretto von Modest Tschaikowski nach Wladimir Begitschew
Im Rahmen der Festspiele Zürich
Dauer 2 Std. 40 Min. inkl. Pause nach dem 1. Akt nach ca. 1 Std. 05 Min. Werkeinführung jeweils 45 Min. vor Vorstellungsbeginn.
Gut zu wissen
Schwanensee
Kurzgefasst
Schwanensee
Wie kein anderes Ballett aus dem klassischen Repertoire geniesst Schwanensee seit über hundert Jahren unangefochtene Popularität. Dabei war die Moskauer Uraufführung von 1877 in einer Choreografie von Wenzel Reisinger eine Enttäuschung. Erst 1895, zwei Jahre nach Tschaikowskis Tod, begann die Erfolgsgeschichte von Schwanensee, als das St. Petersburger Mariinsky-Theater zu Ehren des Komponisten eine Neufassung des bis dahin fast vergessenen Werks präsentierte. Dieser Schwanensee von Marius Petipa und Lew Iwanow begründete eine bis heute andauernde Aufführungstradition und wurde zum Ausgangspunkt unzähliger Neuschöpfungen, die sich zwar auf die beiden Choreografen berufen, jedoch von der ursprünglichen Fassung immer weiter entfernt haben.
Alexei Ratmansky, einer der wichtigsten Choreografen unserer Zeit, hat diese dreiaktige Fassung von Petipa/Iwanow 2016 für das Ballett Zürich rekonstruiert. Der einstige Ballettdirektor des Moskauer Bolschoi-Theaters ist heute «Artist in Residence» beim American Ballet Theatre und arbeitet mit den renommiertesten Compagnien der Welt.
Mit Hilfe der Stepanow-Notation, eines Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten Systems der Ballettkodifizierung, lässt Ratmansky das Werk in seiner ursprünglichen Gestalt wiedererstehen und ermöglicht so den spannenden Blick auf eine versunkene Balletttradition.
Gespräch mit Alexei Ratmansky
Mythos
Der russische Star-Choreograf Alexei Ratmansky rekonstruiert mit dem Ballett Zürich das berühmteste aller klassischen Handlungsballette. Ballettdramaturg Michael Küster führte mit ihm vor der Premiere 2016 ein Gespräch über das Abenteuer, eine Ikone des historischen Balletts in neuem Glanz erstrahlen zu lassen.
Alexei Ratmansky, selbst Nicht-Ballettfans bekommen leuchtende Augen, wenn von Schwanensee die Rede ist, gilt es doch als Inkarnation des klassischen Balletts schlechthin. Worin besteht für Sie der Mythos Schwanensee?
Da kommen ganz viele Faktoren zusammen. Da ist die faszinierende Symbolik der Dualität von Weiss und Schwarz. Da ist die Mischung aus grossen Gefühlen und fantastischen Tableaux, archetypischen Fantasien und stupender Technik, die sich vor dem Hintergrund von Tschaikowskis sensibler und hochemotionaler Musik entfaltet. Schwanensee ist eine der ersten grossen Ballettpartituren. Von einigen französischen Ausnahmen abgesehen, hatte es so etwas noch nicht gegeben. Bis dahin hatte man es im Ballett zumeist mit zweitklassiger Musik zu tun. Tschaikowskis Komposition ist hingegen ein sinfonisch-dramatisches Kunstwerk. Die Erstfassung von Schwanensee, die 1877 am Moskauer Bolschoi-Theater herausgekommen war, hatte noch nicht die durchschlagende Wirkung der als Gemeinschaftsarbeit von Marius Petipa und Lew Iwanow entstandenen Fassung von 1895. Für beide war Schwanensee der Höhepunkt ihrer langen Karrieren. Das Libretto von Wladimir Begichev, dem späteren Intendanten der Moskauer Kaiserlichen Theater, hatte Tschaikowski sehr inspiriert. Doch erst die Version, die Petipa und Iwanow achtzehn Jahre später am Mariinsky-Theater in St. Petersburg herausbrachten, gab dem wirkungsvollen Szenarium eine stringente Form. Petipa blickte damals auf eine fast fünfzigjährige Erfahrung in der Inszenierung grosser Ballettproduktionen zurück und verfügte über ein unerschöpfliches Wissen. Er wusste genau, wie ein Ballett auszusehen hatte, damit es beim anspruchsvollen Publikum ankam. Er kannte jeden Kniff und verschaffte Tschaikowskis Partitur jene Bühnenwirkung, die der Moskauer Schwanensee hatte vermissen lassen.
Seit der Uraufführung der 1895er-Schwanensee-Fassung von Marius Petipa und Lew Iwanow sind mehr als 120 Jahre vergangen, in denen viele Choreografen-Generationen ihren Schwanensee auf die Bühnen gebracht und unseren Blick auf dieses Ballett verändert haben. Ist das, was wir heute mit Schwanensee verbinden, eine Fälschung?
Das kommt auf den Blickwinkel an. Ich bin nicht sicher, ob Tschaikowski über die bereits 1895 ausgeführten Veränderungen an seiner Partitur so glücklich wäre. Wichtige Bestandteile wie etwa die Sturmmusik aus dem letzten Akt sind gestrichen, und es wurden zahlreiche Umstellungen vorgenommen. Er würde Schwanensee wahrscheinlich nicht als sein eigenes Werk wiedererkennen. Und auch Petipa wäre entsetzt über die Veränderungen, die seine Choreografie aushalten musste und muss. Mit Blick auf das Original kann man also durchaus von Verfälschungen sprechen. Andererseits sehe ich aber auch die Notwendigkeit, dass sich jede Generation mit dem Stoff auseinandersetzt und sich ihren eigenen Schwanensee erschafft. Das ist ein stetiger Prozess. Ich selbst allerdings plane keinen weiteren Schwanensee. Anstatt an einer weiteren Fassung herumzulaborieren, choreografiere ich dann doch lieber ein eigenes Ballett. Und ausserdem gibt es ja noch das komplette notierte Mariinsky-Repertoire der Petipa-Ära. Über zwanzig Ballette, von denen die meisten noch auf ihre Rekonstruktion warten.
Wie verläuft dieser Prozess, bei dem die Originalchoreografie von immer neuen Choreografie-Schichten überlagert wird?
Im Ballett ist das tägliche Realität. Wir kreieren Schritte, und schon am nächsten Tag kommt ein Tänzer mit einer Vorstellung, die nur ein bisschen anders ist. Der Ballettmeister oder Choreograf sagt dann vielleicht: «Prima. Lass es uns so machen.» Man kann sich ausrechnen, wie oft das in hundert Jahren passiert sein mag. Doch auch die Welt, die uns umgibt, verändert sich ständig: Lebenstempo, Mode, Reisen... Für das Ballett war es unmöglich, sich zu konservieren. Doch mit Hilfe der Stepanow-Notation, in der die grossen Ballette des Petersburger Repertoires aufgeschrieben sind, haben wir die Möglichkeit, diese Werke wiederauferstehen zu lassen.
«Marius Petipa wusste genau, wie ein wirkungsvolles Ballett auszusehen hatte»
Anstatt also den hundertsten Schwanensee in der Tradition von Marius Petipa und Lew Iwanow zu choreografieren, gehen Sie hier in Zürich auf die 1895 in St. Petersburg uraufgeführte Originalversion der beiden zurück. Wo verläuft die Grenze zwischen Original und Tradition?
Die Schritte sind anders! Ich kann nicht versprechen, dass dieser Zürcher Schwanensee wirklich genauso aussehen wird wie damals, und vielleicht kann man es nicht einmal Rekonstruktion nennen, da wir ja weder das Bühnenbild noch die Kostüme rekonstruieren und auch nicht über die gleiche Anzahl von Tänzern verfügen. Wir können uns nicht in eine Zeitmaschine setzen, um uns in die Körper und Köpfe von damals hinein zu katapultieren. Natürlich kenne ich die widersprüchlichen Auffassungen zu Rekonstruktionen, aber für mich ist eines ganz klar: Ich bin selbst Choreograf und fände es schlimm, wenn jemand meine Choreografie so einfach verändert. Der soll doch bitte seine eigenen Sachen machen! Wenn ich Schwanensee inszenieren soll, möchte ich Petipas Intention, die in den Notationen verankert ist, so nahe wie möglich kommen. Diese Notation ist oft nicht vollständig. An diesen Stellen muss man dann Dinge erfinden und imaginieren, was Petipa an dieser Stelle gemacht haben könnte. Es ist also im Grunde die Sicht eines Choreografen von heute auf das Kunstwerk von Petipa. Die Tradition hingegen beinhaltet auch all jene Veränderungen, die sich über die Jahre in eine Choreografie eingeschlichen haben. Man hat vielleicht einen Tänzer, der grandios in Pirouetten ist, und schon verändert man eine Phrase, um für ihn mehr Pirouetten in der gleichen Zeit unterzubringen. So kommt eins zum anderen. Alle originalen Intentionen, die Logik, die Verbindung zur Musik etc. verschwindet. In der Tradition spiegelt sich die jahrzehntelange, kollektive Arbeit hunderter Tänzer und Choreografen auf der ganzen Welt. Wie Schwanensee 1895 genau ausgesehen hat, wissen wir nicht. Ich kann versichern, dass ich alles verfügbare Archivmaterial gesichtet habe. Mit Hilfe der Notation und weiterer Quellen haben wir die Möglichkeit, uns dem Original so dicht wie möglich anzunähern und eine Vorstellung davon zu gewinnen, wie die Originalchoreografie ausgesehen hat.
Ihre Rekonstruktion basiert auf den Stepanow-Notationen des Balletts, die nach einer abenteuerlichen Odyssee durch Europa heute in der Sergejew- Collection der Harvard University in den USA aufbewahrt werden. Was ist das Wesen dieser Notation?
Vladimir Stepanow hat dieses System der Bewegungsnotation, mit dem man Einzelheiten einer Choreografie chiffrieren und protokollieren konnte, 1892 veröffentlicht. In ein erweitertes, musikalisches Notensystem wurden die Positionen von Kopf, Torso, Armen und Beinen sowie deren rhythmische Bewegungen eingetragen. Von einer angesehenen Kommission erhielt Stepanow den Auftrag, das gesamte Repertoire des Kaiserlichen Balletts in dieser Notation aufzuschreiben. Petipa selbst war übrigens skeptisch und meinte, er interessiere sich nicht für Skelette. Nach Stepanows frühem Tod haben Alexander Gorsky und Nikolai Sergejew diese Dokumentation fortgesetzt. Über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren haben sie notiert: oft unter Zeitdruck, manchmal doppelt. Gelegentlich wurden ganze Szenen ausgelassen, oder es gibt nur einen Bühnengrundriss, auf dem lediglich die Struktur der Formationen abgebildet ist. Eine Riesenarbeit! Die Pantomime wird beschrieben, aber es gibt keine Angaben dazu, wie Gesten und Mimik ausgeführt werden. Hier muss man auf Gestik zurückgreifen, wie sie etwa im Repertoire dänischer und britischer Tänzer überlebt hat. Die Beinbewegungen sind jedoch fast durchweg genau aufgezeichnet, so dass man hier fast durchgängig von einer Rekonstruktion sprechen kann. Die Notation vermerkt, ob ein Bein gebeugt oder gestreckt ist, wie hoch es gehoben wird, in welche Richtung und in welchem Winkel. Allerdings wird keine Ballettterminologie verwendet, sondern man beschränkt sich auf rein mechanische Angaben. Der Oberkörper ist selten notiert, so dass man hier auf traditionelle Versionen zurückgreifen oder sich von anderen Quellen wie alten Fotografien und Filmen inspirieren lassen muss.
Warum haben Sie sich so tiefschürfend mit den Notationen auseinandergesetzt?
All die traditionellen Schwanensee-Versionen, die sich da grossspurig auf Petipa und Iwanow beriefen, haben mir einfach nicht gefallen. Ich hatte meine Zweifel, ob Petipa das wirklich so gemacht hätte. Beim Vertiefen in die Notationen erhärtete sich mein Verdacht, dass hier in grossem Stil geändert worden war. In Russland, aber auch in Westeuropa und Amerika, haben die Ballettmeister und Choreografen es nach der Oktoberrevolution regelrecht als eine Notwendigkeit angesehen, Veränderungen vorzunehmen. Man fühlte sich geradezu dazu verpflichtet, die alte Ballettsprache etwas aufzufrischen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse hatten sich verändert – und mit ihnen natürlich auch das Publikum. Neue Ideen waren gefragt. Alles, was nach Anmut, Manierismus oder irgendwie kompliziert aussah, erschien verdächtig. Gefragt waren Athletik, Einfachheit, Attacke. Man wollte sich selbst als Schöpfer etablieren und benutzte aber weiterhin auch Teile des alten Materials. Verurteilen sollte man das nicht. Auch Petipa fuhr jeden Sommer nach Paris, um sich neue Ballette anzuschauen und schrieb sich die interessantesten Sachen auf. Damals wie heute ist das gängige Praxis: Irgendwo sieht man einen Schritt, der einem gefällt und übernimmt ihn. Ich wollte jedoch verstehen, wie der wirkliche Petipa aussieht, was seine Sprache und seinen Stil ausmacht.
«Wenigstens ein Theater auf der Welt sollte Petipas Originalschritte zeigen!»
Wie verfahren Sie mit «Leerstellen» der Choreografie?
Ich versuche, sie im Sinne Petipas aufzufüllen und greife dafür auf alle nur denkbaren zur Verfügung stehenden Quellen, also auch auf Fotos, Zeichnungen und Filmaufnahmen, zurück. Je mehr man sich in die Notationen vergräbt, desto besser versteht man ihre Logik und entwickelt ein Verständnis dafür, wie das Original ausgesehen haben mag. Man entwickelt einen Sinn für die Koordination des Ganzen. Rekonstruktion bedeutet für mich kein sklavisches Nachbuchstabieren, sondern in die Haut des Choreografen schlüpfen, seine Entscheidungen zu verstehen und die eigenen in seinem Geiste zu treffen. In Petipas Choreografien aus den 1890er-Jahren – damals war er bereits über 70 – merkt man deutlich, wie sich sein Stil von der Französischen Schule wegbewegt und sich zunehmend italianisiert. Er reflektiert die neue Virtuosität der italienischen Tänzer, die an den Kaiserlichen Theatern gastierten.
Wie viel Alexei Ratmansky wird man in diesem Zürcher Schwanensee erleben können?
Ich hoffe, dass man meine Sensitivität und meinen Geschmack eher im Coaching der Tänzer als in der Choreografie spürt. Ich gehe auf grösstmögliche Distanz. Trotzdem würde die Rekonstruktion eines anderen Choreografen, der ebenfalls mit der Notation arbeitet, wahrscheinlich anders aussehen als meine. In Amerika habe ich kürzlich Dornröschen rekonstruiert. Bereits 1999 hat Sergej Vikharev das am Mariinsky-Theater versucht. Wir sind zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen. Die Notation mit einer musikalischen Partitur zu vergleichen, wo die Interpretationsergebnisse zumindest ähnlich klingen, wäre zu einfach.
Was hat Sie aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts bei der Beschäftigung mit den Notationen am meisten überrascht?
Was dort an Schritten und Bewegungen notiert ist, erscheint mir einfach sinnvoll. Sie haben mich in dem Gefühl bestärkt, dass diesen notierten Versionen der Vorrang vor den tradierten Fassungen zu geben ist. Ihr Tempo ist viel schneller und wesentlich dichter an den originalen Tschaikowski-Tempi. Die sowjetischen Versionen sind wahnsinnig langsam. Die Überbetonung der virtuosen Elemente drängt die Partitur förmlich ins Abseits. Wenn russische Compagnien Schwanensee tanzen, sieht das meist sehr langsam aus, und es klingt auch so. Britische Versionen sind schneller, am schnellsten ist das New York City Ballet. Die Amerikaner sind am dichtesten dran an den originalen Tschaikowski-Tempi, allerdings mit Schritten von Balanchine.
Bei Ihrer Schwanensee-Rekonstruktion wird man sich also vermutlich verwundert die Augen reiben und die Ohren spitzen?
Die Schwäne sehen anders aus. Sie haben noch keine Federn in den Haaren, sondern offene, fallende Haare. Die Tutus ähneln mehr einem Rock als einem seitlich abstehenden Tutu. Es gibt viele Männer in den Schwanenszenen: nicht nur den Prinzen, sondern auch seine Freunde und Jäger. Wenn sich Siegfried mit der Schwanenkönigin unterhält, ist sein bester Freund Benno dabei. Die Szene gipfelt in einem Pas de trois. Zwischen Siegfried und Benno scheint eine besondere Beziehung zu bestehen. Ich glaube nicht, dass es sich um einen «Fehler» handelt. Die Schwanenszene war ja von Iwanow schon ein Jahr zuvor für die Gedenkvorstellung zu Tschaikowskis Tod choreografiert worden und ist dann in den Kontext der kompletten Fassung integriert worden. Wenn Petipa und Iwanow das hätten ändern wollen, hätten sie es sicher getan. Es gibt Schwanenkinder und schwarze Schwäne, die in westlichen Produktionen eigentlich nie zu sehen sind. Sie werden nur am Mariinsky- und am Bolschoi-Theater eingesetzt. Was die Choreografie angeht, gibt es natürlich gravierende Unterschiede. Die Corps de ballet-Szenen sind wunderschön und komplex in ihren Formationen. Petipa benutzte weniger Schritte als heute üblich, seine Choreografie wirkt nie überchoreografiert. Deshalb konnte sie schneller getanzt werden. Es gibt weniger überstreckte Körperlinien. Es dominieren Rundungen und Kurven. Gebeugte Knie. Siegfried und seinen Freunden begegnen die Schwäne in Mädchengestalt. Man hat zwar eine Ahnung, dass sie keine «normalen» Mädchen sind, aber die typischen, von Agrippina Waganova verfeinerten Arme als Zeichen für die Schwanenflügel sind verschwunden. Und auch der Schwarze Schwan (Odile), der wie Odette von der gleichen Ballerina getanzt wird, ist eher mädchen- als schwanenhaft. Ich hoffe, dass sich mit dieser Vermenschlichung auch insgesamt der Eindruck grösserer Anmut einstellt.
Wir haben viel über Petipa gesprochen, aber der Anteil von Lew Iwanow ist natürlich ebenso präsent.
Sie werden lachen, aber ich bin tatsächlich mit ihm verwandt. Der Bruder meiner Grossmutter war der Mann seiner Enkelin. Iwanow war eine enigmatische Figur. Er war zunächst Solist des Mariinsky-Balletts und wurde später zweiter Ballettmeister, der gelegentlich auch choreografieren durfte, wohlgemerkt in Petipas Schatten. Insofern war es für ihn eine einmalige Chance war, dass er – bedingt durch eine Erkrankung Petipas – die weissen Akte in Schwanensee choreografieren durfte. Es sind Wunderwerke, die ihrer Zeit voraus sind. Im Vergleich zu Petipa ist Iwanows Choreografie noch weicher und poetischer.
Wie erleben Sie die Zusammenarbeit mit dem Ballett Zürich?
Ich arbeite zum ersten Mal in Zürich. Jede Compagnie hat ihre eigene Mentalität, auf die man sich einstellen muss. Da wir auf das Schwanensee-Original zurückgehen, sind viele effektvolle Momente aus späteren Fassungen nicht mehr vorhanden. Bei den Tänzern kann das gelegentlich das Gefühl auslösen, nicht genug von sich zeigen zu können. Ich versuche sie dahingehend zu inspirieren, auch in dem reduzierten Vokabular Energie und Schönheit zu entdecken. Es braucht Zeit, diese Balletttechnik aus einer versunkenen Zeit zu erlernen und an sie zu glauben. Ich ermutige die Tänzer, das Ganze als neuen choreografischen Stil anzunehmen, den sie sich genau wie die Stile eines Douglas Lee oder Paul Lightfoot erschliessen.
Welche Rolle spielt die Pantomime?
Die Pantomime in den Handlungsballetten hatte eine viel grössere Bedeutung als heute. Früher wurde ein Tänzer nicht nur danach beurteilt, wie gut er tanzte, sondern auch sein Spiel wurde einer eingehenden Bewertung unterzogen. «She is beautiful, but she can’t mime» war ein vernichtendes Urteil. In Schwanensee gibt es viele Gesprächssituationen. In der letzten Szene sagt Odette immer wieder, dass sie sterben wird. Sie gestikuliert. Und auch, als der Prinz sie fragt, warum sie ein Schwan sei, erzählt sie ihm mit Gesten ihre Geschichte. Die Tänzer müssen mit der Pantomimik genauso vertraut sein wie mit dem Schrittmaterial.
Welche Einsichten vermitteln Sie den Tänzern über ihre Rollenpsychologie?
Meistens ist diese Psychologie bereits in den Schritten verankert. Man muss nichts dazu addieren, weil das Schrittmaterial an sich schon über eine grosse Expressivität verfügt. Es geht nicht um die Zurschaustellung von Anmut, gutem Training oder schönen Linien. Zu einem wesentlichen Teil liegt das Drama auch in der Musik. Wir müssen einen Weg finden, die dramatische Qualität der Musik und der Geschichte durch den Körper auszudrücken.
Welche Konsequenzen hat die Rekonstruktion für Ihren Bühnen- und Kostümbildner Jérôme Kaplan?
Da wir hier keine wissenschaftliche Arbeit machen, hat er in seiner Interpretation eine gewisse Freiheit. Er rekonstruiert weder die Bühne noch die Kostüme von 1895 und wird also kein Museumsstück auf die Bühne bringen. Die einzigen Vorgaben sind die Handlungsschauplätze und die Bühnengrundrisse aus den Notationen. Aber natürlich lässt er sich von den Originalkostümen inspirieren.
Was erhoffen Sie sich von Ihrem Zürcher Schwanensee?
Natürlich haben auch die traditionellen und neuen Versionen von Schwanensee ihre Qualitäten und ihre Existenzberechtigung. Doch wenigstens ein Theater auf der Welt sollte doch bitte die Originalschritte von Petipa zeigen. Deshalb freue ich mich sehr auf diesen Schwanensee! Ich bin mir im Klaren darüber, dass so eine Rekonstruktion in Russland ein Riesendrama wäre und bin gespannt, wie das Publikum in Zürich und an der koproduzierenden Mailänder Scala reagieren wird. Die Texttreue darf nicht den Eindruck erwecken, dass wir einem historischen Experiment beiwohnen. Herauskommen muss interessantes, lebendiges Theater!
Das Gespräch führte Michael Küster
Dieser Beitrag ist erschienen im MAG 36, Januar 2016.
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Dorion Weickmann hat den weltweit gefragten Choreografen getroffen
Ein Ballettsaal, vielleicht in Zürich, vielleicht in New York. Tänzer kniffeln an einer komplizierten Hebung. Vorn steht einer, den Blick unverwandt aufs Geschehen gerichtet. Er trägt Brille, robustes Schuhwerk, eine bequeme Hose, lässiges T-Shirt. Sein Allzeit-Accessoire, eine Aktentasche, lehnt an einem Stuhl, auf den er sich aber nur ausnahmsweise setzt. Zumeist streift er mitten durch die Tänzertraube, luchsäugig, als inspiziere er ein fremdartiges Rudel. Den Kopf leicht seitwärts geneigt, gibt er mit leiser Stimme Korrekturen. Bisweilen sinniert er ein Weilchen, bevor er eine Hilfestellung anbietet: «Es geht nicht ums Ausstellen – alles strömt von innen nach aussen, strahlt von der Wirbelsäule aus. Spürst du das?» Wenn jemand partout nicht versteht, worauf er hinaus will, oder allzu musterschülerhaft pariert und so das gestalterische Moment des Tanzens verfehlt, fackelt er nicht lange. Ein, zwei Erklärungen, was zu tun, zu lassen ist – falls das nicht fruchtet, wandert der Jemand in die zweite Reihe. Ohne Aufregung, ohne Drama, so locker wie beiläufig.
Ohne den Staub der Überlieferung
Alexei Ratmansky wird von Tänzern verehrt, bewundert, mit Zuneigung bedacht. Für seine Musikalität, Phantasie und Neugier, für die entspannte Atmosphäre, die er verbreitet. Vor allem aber für sein immenses Wissen: Dass er sich vorbehaltlos in die klassische Tradition einreiht und deren Originalpreziosen maximal aufwändig, weil möglichst detailgetreu restauriert, wird international bejubelt – von Interpreten, Zuschauern, Kritikern, Intendanten, vom ganzen Tross des Balletts, der um Slots in Ratmanskys engem Terminkalender rivalisiert. Wenn der Starchoreograf nun das Werk aller Werke, den Schwanensee, mithilfe hundert Jahre alter Notate an die Quelle zurück verfolgt und in seine ursprünglichen Proportionen fasst, wird manch einer neidisch nach Zürich schielen. Gewiss hat der Russe schon andernorts Repertoiresäulen wie Le Corsaire, Paquita und Dornröschen vom Staub der Überlieferung befreit. Aber den Stützpfeiler des abendländischen Tanzgewölbes, dessen Name selbst Ballettbanausen ein Begriff ist, renoviert er exklusiv für Zürich. Einen Retro-Schwanensee muss niemand befürchten. Ratmanskys Aufführungen sind hybride Artefakte. Am ehesten lassen sie sich mit den architektonischen Hervorbringungen eines David Chipperfield vergleichen, der Ruinen, Bausteine, Materialien von vorgestern in heutige Wände einzieht und so in gemauerten Schreinen konserviert. Genauso bearbeitet Alexei Ratmansky die Relikte vergangener Tanzepochen: Indem er ihre papiernen Schatten aus den Archiven birgt, ihnen neues Leben einhaucht und dort, wo Organisches weggebrochen ist, behutsam Ergänzungen einfügt.
Aber wie signiert er diese Gebilde? Was kennzeichnet seinen Stil? Wer Gelegenheit hat, ihm bei Proben über die Schulter zu schauen, lüftet das Werkstattgeheimnis aller eminenten Choreografen: Das Schriftbild, das sie dem Raum eingravieren, ist der Spiegel ihrer eigenen condition corporelle. Was immer wir auf der Bühne betrachten, ist dem Körper des Schöpfers entsprungen und entfaltet sich entlang seiner unverwechselbaren Bewegungssprache. Sie bestimmt Ausdruck und Ästhetik, sie ist der Stempel, der jede Aufführung prägt. Die Tänzer diese Sprache so zu lehren, dass sie es darin zu aussergewöhnlicher Fertigkeit und exzellenter Mitteilungsfähigkeit bringen, ist die eigentliche Aufgabe des chorégrapheauteur. Ratmanskys Inszenierungen reflektieren mithin: Ratmansky selbst. Seine Bewegungen sind von eleganter Noblesse, verströmen das Selbstbewusstsein einer Raubkatze und die Nonchalance eines Könners, der das Akademische im Tiefschlaf beherrscht und deshalb getrost hinter sich lassen kann – indem er es bis weit übers Limit hinaus strapaziert. Obwohl im ehemaligen Leningrad geboren, in Moskau ausgebildet, als Tänzer in Kiew, Kanada und Kopenhagen mit denkbar unterschiedlichsten Ballettmixturen imprägniert, geht Ratmansky alles Missionarische und Orthodoxe ab. Ihn interessiert nichts anderes, als den Reichtum an Formen, den seine Kunst über hunderte von Jahren angehäuft hat, zu mehren. Ihren Spielraum zu erweitern, ohne ihre Beschaffenheit zu verfälschen.
Eine Unterhaltung mit dem Endvierziger einzufädeln, ist kein Problem. Doch sobald seine professionellen Überzeugungen gefragt sind, verwandelt sich das Wort-Ping-Pong in ein Seminar über die letzten Fragen der Tanzkunst. Von den opulenten Amüsements Ludwigs XIV. bis zu radikal entschlackten Gegenwartsformaten wird sich kein Thema finden, über das Ratmansky nicht Auskunft geben kann. Unprätentiös begegnet er dem Gegenüber, selbst wenn er gerade eine Probe beendet und eigentlich eine Auszeit verdient hat. Doch Derartiges scheint in seinem Leben gar nicht vorgesehen – weder im Grossen noch im Kleinen.
Ein Künstler mit weitem Horizont
Seit Jahren jagt ein Auftrag den nächsten, und jeder davon wird gewissenhaft geschultert und brillant erledigt. Mithilfe einer Prozesstaktung, die – Ausnahmen bestätigen die Regel – im Morgengrauen beginnt: Der Choreograf bereitet das Tagespensum vor, um auf die Minute und bestens präpariert im Ballettsaal zu erscheinen, wo er die Uhr ganz gerne mal vergisst – und den einen oder anderen Einfall auch, weil ihm plötzlich etwas Besseres durch Kopf und Glieder schiesst. Pausen nutzt er, um sich mit russischen Landsleuten an den Kantinentisch zu setzen und über die Weltlage ebenso zu debattieren wie über Putins neozaristisches Reich. Nach Feierabend geht er ins Theater, stromert durch Ausstellungen oder pflegt seine «Facebook»-Repräsentanz. Natürlich gibt er auch da nicht irgendwelchen Unfug von sich, sondern lässt die Gemeinde teilhaben an seinen historischen Recherchen: Mit der Akribie eines Forschers kommentiert Ratmansky Fotos, Notationen, die Memorabilien legendärer Ballerinen. Weil der Follower-Schwarm nicht mehr als drei bis vier Expertisen in Serie verkraftet, streut der Schreiber, gewitzt wie er ist, regelmässig flotte Einträge im Ton eines journal intime dazwischen.
Geburtstagsgratulationen für Gattin Tatiana Kilivniuk (die ihm beim Schwanensee assistierend zur Seite steht), den fast volljährigen Sohn Vasily, die Frau Mamakünden im «Facebook»-Schaufenster vom Familienglück; daneben prangt Alltägliches wie die Frage, ob jemand ein Restaurant mit schöner Aussicht in Manhattan weiss, oder ein Dankeschön an Mikhail Baryschnikov – den Ballerino, der sich 1974 in den Westen absetzte, eine Traumkarriere hinlegte und mit Ratmansky den aktuellen Wohnsitz teilt: New York. Beide kehrten Russland den Rücken, und beide beurteilen die Moskauer Zustände skeptisch. Ratmansky ist zwar kein lautstarker Dissident, er neigt nicht zu voreiligen Schlüssen. In der Netz-Öffentlichkeit aber bezieht er aktiv Stellung gegen totalitäre Entgleisungen, Korruption und Machtmissbrauch. 1968 geboren, hat er mit den spätkommunistischen Potentaten und ihren postsowjetischen Nachfahren genug Erfahrung gesammelt, um ideologischen Formeln zu misstrauen. Ein Teil seiner Verwandtschaft lebt nach wie vor in Kiew, wo er aufgewachsen ist, und steht dort im Sturm der Krise, die ins Stadium eines Dauerkonflikts eingetreten ist. Wenn das nicht reicht, um die Zeitläufte mit Argusaugen zu beobachten, was dann?
Jenseits der Web-Agora scheut Ratmansky das Extreme wie das Extrovertierte. Er ist ein freundlicher und zuvorkommender Gesprächspartner, aber seine Eloquenz verschafft ihm auch eine Art Abstand, eine Sicherheitsreserve. Politische Kritik äussert er dezent, und obwohl er Privates erzählt, beschleicht einen anschliessend das Gefühl, einem unergründlichen Mysterium begegnet zu sein. Einem Künstler, dessen Abgründe hinter einem Paravent aus Verbindlichkeit, Gleichmut und Gelassenheit verschwinden. Vielleicht ist der seelische Sichtschutz ein Gottesgeschenk, vielleicht aber auch ein erworbenes, weil notwendiges Utensil. Denn so viel ist gewiss: Alexei Ratmansky, Sprössling einer Psychiaterin und eines Luftfahrtingenieurs, hat von klein auf gelernt, mit Gegensätzen klarzukommen und Unwuchten auszugleichen. Seine Laufbahn als Tänzer verbrachte er im Ost-West-Spagat, als Choreograf startete er ebenfalls in beiden Hemisphären durch, und ab 2004 ging er vier lange Jahre durch ein Stahlbad, das nur die Nervenstärksten halbwegs unbeschadet überstehen: Ratmansky schlug ein, als ihm die Leitung des Bolschoi-Balletts angetragen wurde. Er ackerte bienenfleissig, redlich um Versöhnung zwischen den verfehdeten Fraktionen des Ensembles bemüht. Vergebens. Grosse Teile der Compagnie blockierten, sobald er an ihren Verkrustungen kratzte. Zwar gelang unter seiner Ägide eine Verjüngung des reichlich vergreisten Repertoires. Doch zugleich lernte Direktor Ratmansky in den Hinterzimmern der Macht und in den Weiten des prestigeträchtigen Musentempels den sprichwörtlichen «Tanz auf dem Vulkan»− so sein persönliches Fazit.
Sinn für wahrhaftige Menschenporträts
Eine klitzekleine Ahnung davon, was das in der Praxis bedeutete, vermittelt der 2007 gedrehte Dokumentarfilm Strictly Bolshoi. Damals choreografierte der Brite Christopher Wheeldon in Ratmanskys Auftrag für die Truppe, deren Bigshots den Nachwuchsmann gnadenlos auflaufen liessen und ihren Chef auf jede erdenkliche Weise düpierten. Dagegen half nur british humour oder bitterer Sarkasmus.
Da ihm weder das eine noch das andere zu Gebote stand, nahm Ratmansky seinen Hut und emigrierte. Er ging mit Frau und Kind nach New York, unterschrieb einen mittlerweile bis 2021 verlängerten Vertrag als resident choreographer des American Ballet Theatre – und stieg in rasender Schnelligkeit zum international gastierenden Klassik-Spezialisten auf. Sein feiner Sinn für dramatische Elementarkräfte und wahrhaftige Menschenporträts haben diesen Erfolg massgeblich befördert. Genau wie New York, das turbodynamische und ultraprogressive Wahldomizil, das dem Russen Heimat geworden ist. Weil er hier, wie er sagt, endlos Anregungen findet, endlosen Spass – und endlos Kollegen und Kritiker, die er als intellektuelle Sparringspartner schätzt. Natürlich verständigt er sich mit ihnen auf Englisch, während sein Denken immer noch in die Schale der Muttersprache zurück schlüpft. Noch so ein rätselhaftes Phänomen.
Danach gefragt, setzt der mysteriöse Herr Ratmansky das Lächeln einer Sphinx auf. Als wolle er sagen: Reden ist Silber, Tanzen ist Gold. Stimmt ja auch. Die allerwichtigsten Dinge, die allerschönsten Augenblicke finden allein auf der Ballettbühne statt. Jedenfalls, wenn ein Alexei Ratmansky sie bestückt. Sein Schwanensee wird das abermals beweisen. Garantiert.
Text von Dorion Weickmann
Dieser Beitrag ist erschienen im MAG 36, Januar 2016.
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