Elektra
Tragödie in einem Aufzug von Richard Strauss (1864-1949)
Libretto von Hugo von Hofmannsthal nach seiner gleichnamigen Tragödie
nach der Tragödie von Sophokles
In deutscher Sprache mit deutscher und englischer Übertitelung. Dauer 1 Std. 45 Min. Keine Pause. Werkeinführung jeweils 45 Min. vor Vorstellungsbeginn.
Gut zu wissen
Die geniale Stelle
Die Erkennungsszene gehört seit den Anfängen des europäischen Theaters zum festen Bestandteil der dramaturgischen Mittel, die von den Dichtern verwendet werden, um die Zuschauer in die Welt ihres Dramas hineinzuziehen. Die starke emotionale Wirkung solcher Szenen scheint auf zwei Momenten zu beruhen: Zum einen kennt jeder aus eigener Erfahrung den Schmerz der Trennung von geliebten Menschen und die Freude des Wiedersehens, kann sich also leicht in jene hineinversetzen, die das in gesteigerter Form erleben. Zum anderen liegt in der Vorstellung, dass sich zwei Menschen nach Jahren der Trennung doch noch wiederfinden und an dem Punkt anknüpfen, an dem sie getrennt worden sind, eine der grossen Hoffnungen des Menschen: die Hoffnung auf den Sieg über die Zeit, über die Vergänglichkeit. Der Moment des Wiederfindens scheint eine Brücke zu spannen über den Abgrund des Leids, der zwischen der Trennung und dem Wiedersehen liegt, ja, er scheint ihn zum Verschwinden zu bringen. Es liegt für jeden unmittelbar auf der Hand, dass dies nicht möglich ist, und Dramatiker, die solche Szenen schufen, sind mit diesem Widerspruch zwischen Hoffnung auf das Unmögliche und desillusionierender Realität jeweils verschieden umgegangen: Mancher hat die vergangene Zeit schlicht ignoriert und den Zuschauern für einige Momente im Theater den schönen Traum gelassen, andere haben sich gerade die Zerstörung dieser Illusionen zum Ziel gesetzt.
Für die Erkennungsszene seiner Elektra wählt Richard Strauss letzteren Weg. In dem Augenblick, da die Heldin begreift, wer der fremde Mann ist, der vor ihr steht, entringt sich ihr in einem wilden Schrei nur der Name des geliebten Bruders: «Orest!» Dazu erklingt im Orchester ein grell dissonierender Akkord, dessen harmonische Gestalt in der Literatur auf verschiedenste Arten gedeutet wird. Manche Wissenschaftler haben ihn kurzerhand als atonal klassifiziert, andere fanden eine polytonale Schichtung von einfachen Dreiklängen und wieder andere zeigten höchst spitzfindige Möglichkeiten, ihn doch noch im Rahmen einer extrem ausgeweiteten Tonalität zu erklären. Wie man diese Analysen immer bewerten mag, entscheidend ist der Eindruck, den dieser Klang auf den unvoreingenommenen, nicht analysierenden Hörer und Zuschauer der Oper ausübt: Das Erlebnis einer mit überwältigender Wucht hereinbrechenden Klangballung, die selbst innerhalb der an Dissonanzen überaus reichen Elektra-Musik einen Ausnahmefall darstellt und deren schockierende Wirkung durch die grelle Instrumentation noch einmal verstärkt wird. Was darauf folgt, ist eine lange Passage, in der die Musik endgültig aus den Fugen zu geraten scheint. Wild abstürzende Passagen, donnernde Schlagzeugeinwürfe, Linien, die jubelnd zum Tanz anzusetzen scheinen und im Schmerzgekreisch der hohen Holzbläser verenden, triumphierende Fanfaren, die sofort wieder ersticken – dies ist kein Freudenschrei, dies ist ein Ausbruch nackten Entsetzens. Eines Entsetzens, das die menschliche Vorstellungskraft übersteigt. Es ist der restlose Zusammenbruch aller Hoffnungen: Elektra kann nun nicht mehr zweifeln, dass ihre schlimmste Befürchtung eingetroffen ist: Der Orest, der da vor ihr steht, ist nicht ihr Bruder, nicht das Kind, das sie in Erinnerung hatte und das sie erwartete. Er ist herangewachsen und ist nun Orest, die Kampfmaschine, Orest, der Rächer, aufgezogen und ausgebildet zu dem einzigen Zweck, die eigene Mutter kaltblütig zu ermorden. Unter der Maske der Verstellung hat er die Wahrheit gesagt: Orest ist gestorben, zu dem sehnlich erwarteten Bruder führt kein Weg zurück. Für ihn gibt es nur noch einen Weg: den in die Zukunft, zum Muttermord, in den Wahnsinn. Dass dies der Wahnsinn des ersten Weltkriegs ist, legt die Musik nahe, in deren dissonanten Klangballungen und donnernden Entladungen man bald so etwas wie ein vorausgehendes Echo der kommenden «Stahlgewitter» hörte. Doch die kommende Katastrophe ragt auch in einem anderen Sinne in das Stück hinein: In dem deutlichen Gefühl, dass etwas zu Ende geht, eine grosse Kultur unwiderruflich zerbricht, dass eine Epoche der Barbarei anbricht, in der das alte Europa untergehen wird. Damit wird es wohl zusammenhängen, dass eine der unvergesslichen Passagen dieser monumentalen Tragödie gerade jene kleine, ganz schlichte, untröstliche Phrase der Elektra ist: «…dass das Kind nie wieder kommt, nie wieder kommt.»
Text von Werner Hintze.
Dieser Artikel ist erschienen in MAG 30, Juni 2015
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Elektra
Synopsis
Elektra
Innerer Hof im Palast von Mykene. Elektra wird nur von einem Gedanken beherrscht: ihren Vater Agamemnon, der durch die Hand ihrer Mutter Klytämnestra und ihres Buhlen Aegisth fiel, zu rächen. Sie duldet den Spott der Mägde, denen sie so rätselhaft wie unheimlich ist. Nur die jüngste Magd verteidigt die Königstochter, wofür sie von den anderen bestraft wird. Wie jeden Tag beschwört Elektra zur Todesstunde den grausamen Mord an ihrem Vater herauf, ruft seinen Schatten an und visioniert den Moment, in dem sie ihn gemeinsam mit ihrem Bruder Orest, der – sehnlichst von ihr zurückerwartet – in der Fremde weilt, und ihrer Schwester Chrysothemis rächen wird, um dann sein Grab mit Siegestänzen zu ehren.
Chrysothemis schreckt sie aus ihren Triumphträumen auf, warnt sie vor Klytämnestra und Aegisth, die sie in einen finsteren Turm sperren wollen. Vergeblich bittet sie die Schwester, ihren Hass endlich zu begraben, damit auch sie wieder ein freies Leben führen kann. Sie sehnt sich nach einem «Weiberschicksal» mit Mann und Kindern; an die Rückkehr des Bruders glaubt sie nicht länger. Elektra hat nur Hohn für sie. Aus dem Palast ertönt Lärm, Klytämnestra nähert sich. Noch einmal bittet Chrysothemis Elektra, der Mutter aus dem Weg zu gehen, denn sie habe wieder geträumt. Doch nun hat Elektra erst recht Lust, mit Klytämnestra zu reden. Diese, psychisch zerrüttet von Angstträumen, gegen die auch die zahllos gebrachten Tieropfer nichts geholfen haben, findet Elektra zum ersten Mal scheinbar verständnisvoll. Sie schickt ihre Vertrauten fort, um mit ihrer Tochter allein zu reden, befragt sie nach einem Mittel gegen ihre Träume. Lustvoll enthüllt ihr Elektra: «Wenn das rechte Blutopfer unter’m Beile fällt, dann träumst du nicht länger». Ehe Klytämnestra begreift, dass sie selbst gemeint ist, steigert sich Elektra in die blutrünstige Vision ihres Todes. Eine Vertraute eilt herbei und flüstert der von Grauen gepackten Klytämnestra etwas ins Ohr. Unter triumphalem Gelächter kehrt diese in den Palast zurück. Ratlos bleibt Elektra zurück, doch dann erfährt sie von Chrysothemis: «Orest ist tot». Zwei Boten haben die Nachricht überbracht. Elektra will es nicht glauben, doch als ein junger Diener losreitet, um Aegisth diese Neuigkeit zu überbringen, kann auch sie nicht länger zweifeln.
Nun fleht Elektra Chrysothemis an, ihr bei dem Rachewerk zu helfen, doch die Schwester schreckt davor zurück. Elektra verflucht sie. Entschlossen, die Tat allein und ohne Zögern auszuführen, gräbt sie nach dem von ihr aufbewahrten Beil, mit dem Agamemnon erschlagen wurde. Ein Fremder tritt herein und gibt sich als der Bote aus, der Orests Tod bezeugen könne. Durch die bitteren Klagen Elektras, die er für eine Magd hält, befremdet, fragt er sie nach ihrem Namen und erfährt entsetzt, das er in diesem erbarmungswürdigen Wesen seine Schwester vor sich hat. Nun gibt auch er sich als ihr Bruder Orest zu erkennen, der zurückgekommen ist, um den Vater zu rächen. Ihre selbstvergessene Wiedersehensfreude bringt fast seinen Plan in Gefahr. Sein Begleiter mahnt zur Tat. Orest betritt mit ihm den Palast. In entsetzlicher Spannung bleibt Elektra, die es versäumte, ihm das Beil mitzugeben, zurück. Aus dem Inneren des Hauses gellen die Todesschreie Klytämnestras. Aufgeschreckte Mägde und Chrysothemis eilen aus dem Haus, fliehen jedoch zurück in Todesangst vor dem heimkehrenden Aegist. Elektra empfängt ihn mit tückischer Freundlichkeit und lockt ihn ins Haus. Dort wird auch er von Orest erschlagen. In das folgende Gemetzel, das Orest mit seinen Getreuen unter den Anhängern des Aegisth veranstaltet, mischen sich die Jubelgesänge von Chrysothemis. Elektra, überwältigt von der vollzogenen Tat, ist ihrer selbst nicht mehr mächtig. Sie sieht sich als Anführerin des Siegesreigens. Nach einigen Schritte des angespanntesten Triumphes stürzt sie zusammen. Chrysothemis ruft nach Orest.